Lindenallee
und Lebensmittel für die Bevölkerung und vor allem die Soldaten erzeugten. Eigentlich durften wir nur das Notwendigste für uns behalten, aber auch als es mit dem Krieg schlimmer wurde, mussten wir trotz alledem nie Hunger leiden. Meine Mutter hatte immer eine Reserve versteckt.
In einem kleinen Waldstück, das einer Nachbarsfamilie gehörte, mästeten wir mit ihnen zusammen Schweine. Es durfte niemand davon erfahren, sonst wären wir geliefert gewesen. Wir hatten Glück und es flog nicht auf. So kamen wir gut durch die harten Winter, in denen Leute aus der Stadt auftauchten, um bei uns nach etwas zu Essen zu fragen. Manche versuchten sich etwas durch Stehlen zu nehmen, so dass nachts meine Brüder aufpassen mussten.
Heinz ging solange auf dem Rittergut arbeiten, bis die Pferde für den Kriegseinsatz beschlagnahmt wurden. Er verlor daraufhin seine Arbeit und half auf dem elterlichen Hof mit. Der Krieg erreichte uns das erste Mal hautnah, als mein ältester Bruder Soldat wurde. Er brach begeistert in den Krieg auf, aber ich hatte große Angst um ihn. Junge Männer sind für so etwas leicht zu begeistern. Seine ersten Briefe hörten sich euphorisch und glorreich an. Sie eilten in rasender Geschwindigkeit von Sieg zu Sieg. Irgendwann begann die Stimmung zu kippen, die Briefe kamen seltener, die Grundstimmung schwappte in Zweifel um, später war er desillusioniert und niedergeschlagen. Wir alle befürchteten das Schlimmste, als uns zu Beginn des Jahres 1944 keine Briefe mehr erreichten. Wir wussten nur, seine Einheit war in Richtung Osten unterwegs gewesen. Die Ungewissheit lastete schwer auf uns und für meine Mutter muss es entsetzlich gewesen sein. Wir erfuhren nie, ob und wo er gefallen ist. Wie kann ein Mensch einfach so verschwinden?
In diesen schweren Zeiten suchten Heinz und ich, so oft es ging, unseren Zufluchtsort auf: die Lindenallee. Ritter, die von einem Kreuzzug nach Hause kamen, spielten wir nicht mehr. Wir waren aus den Jugendträumen erwacht.
An einem Oktobertag 1944 saßen wir in der Lindenallee unter unserem Baum. Es war schon spät in der Nacht und wir hätten eigentlich zu Hause sein müssen. Die funkelnden Sterne am Himmel hielten uns zurück. Sie erschienen uns zum Greifen nahe und zogen uns in ihren Bann.
Ich dachte an den Abend zurück, als wir hier gelegen und das hell erleuchtete Sternenzelt bewundert hatten. Meine Hand hatte in der von Friedrich gelegen und ich hatte mich als der glücklichste Mensch auf Erden gefühlt.
„ Was Friedrich wohl gerade macht?“, fragte ich mich laut. Heinz und ich sprachen häufig über ihn.
„ Es geht ihm bestimmt gut. Er ist ein schlauer Kerl, so wie ich auch einer bin.“
Ich drehte mich zu Heinz. „Wenn Friedrich jetzt hier wäre, würde er dir an den Kopf werfen, dass Eigenlob stinkt und dann eine wilde Rauferei mit dir anfangen.“ Ich lächelte bei dem Gedanken daran, wie gerne die Beiden ihre Kräfte in Zweikämpfen gemessen hatten.
„ Ja, das stimmt.“ Heinz legte sich ins Gras zurück und blickte in den Himmel. „Ich vermisse ihn. Er war mein bester Freund.“
„ Und meiner“, seufzte ich traurig. „Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann den, ihn wiederzusehen.“
Wir blickten stumm in den Himmel und schwiegen bedrückt. Wir beide trauerten ihm nach, jeder auf seine Weise und doch in einer geschwisterlichen Verbundenheit.
Ein brummendes Geräusch riss uns aus unseren Gedanken. Das Geräusch war tief und kam beständig näher. Heinz horchte auf.
„ Was ist das?“ Suchend blickte er sich um, als etwas über unseren Köpfen hinwegflog. Ich stand auf und suchte den dunklen Himmel ab, aber es war nichts zu entdecken.
„ Das sind Flugzeuge, eine Menge sogar“, erkannte Heinz das Geräusch. „Sie fliegen sehr hoch.“
In dem Moment trug uns der Wind den durchdringenden Ton des Fliegeralarms aus Braunschweig an die Ohren. Wenn der Wind günstig stand, drang der furchtbare Laut bis nach Lucklum. Wenig später fuhren die Sirenen bei uns im Dorf hoch. Das war immer so, warum, weiß ich bis heute nicht, denn auf Lucklum prasselten nie Bomben herab. Heinz und ich verharrten auf der Stelle, den Blick nach Braunschweig gerichtet. Meine Gedanken und Sorgen galten meinem Onkel Franz, der vor dem Krieg die Fotos von Friedrich, Heinz und mir in der Lindenallee gemacht hatte. Onkel Franz lebte mit seiner Frau in der Stadt und sie hatten schon einige Fliegernächte überstanden.
Je länger wir in der Lindenallee warteten, desto mehr
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