Lindenallee
Flugzeuge dröhnten über uns hinweg.
„ Das sind ziemlich viele. Das wird eine schlimme Nacht für die Menschen.“ Heinz bewegte sich nicht von der Stelle und ich beschloss, in seiner Nähe zu bleiben. Mit den heulenden Sirenen im Hintergrund erwarteten wir mit einer Mischung aus Neugier und Entsetzen die schlimmste Bombennacht, die Braunschweig je erleben sollte.
Die kühler werdende Herbstluft kroch uns langsam die Beine hoch und ein auffrischender Wind wehte uns entgegen. Wir erwarteten das Unvermeidliche.
Zuerst hörten wir es. Geräusche von explodierenden Bomben und wenig später hellte sich der Himmel orange über Braunschweig auf. Wir wussten, was das bedeutete: Brandbomben gingen über der Stadt nieder und vernichteten mit ihren Flammen und der Hitze alles Leben, was sich ihnen entgegenstellte.
Still betete ich für die Menschen in der Stadt. Ich betete für meinen älteren Bruder, der an der Ostfront verschollen war und ich betete für Friedrich, wo immer er auch sein möge. Ich hoffte inständig, meine Gebete würden erhört werden.
Wir harrten nicht bis zum bitteren Ende des Fliegerangriffs aus, sondern kehrten schweigend nach Hause und berichteten den Eltern, was wir gehört und gesehen hatten. Diese Nacht war nicht an Schlaf zu denken. Der Krieg traf uns nicht direkt, aber tief ins Mark.
Morgens lief der deutsche Radiosender der BBC in der Küche und berichtete über den schweren Angriff auf Braunschweig. Ich empfand es als schlimm mit anhören zu müssen, wie viel Leid und Trauer hinter den paar Worten steckten musste, die dem Radiosprecher so leicht über die Lippen gingen.
Meine Mutter lief den restlichen Tag rastlos hin und her. Wie oft hatte sie ihrem Bruder nahe gelegt, zu ihnen aufs Land zu ziehen! In einer großen Stadt zu leben war gefährlich, denn diese wurden im vorangeschrittenen Kriegsverlauf in Schutt und Asche gelegt.
Ich kannte meine Mutter als einen ruhigen, ausgeglichen Menschen, aber der Krieg setzte ihr hart zu: eines ihrer Kinder war im Krieg geblieben und ihr Bruder sandte keine Nachricht, dass es ihm und seiner Frau gut ging. Der Tag nach der Feuernacht verging wie in Zeitlupe. Schwere, langgezogene Stunden quälten uns und die Ungewissheit schmerzte wie Salz in der Wunde.
Die nächste Nacht kam und ging, auf dem Hof setzten wir unsere Arbeit fort, um uns abzulenken und das alltägliche Leben aufrecht zu erhalten.
Mittags trafen wir in der warmen Herbstsonne am Haus zusammen und nahmen schweigend unser Mittagessen ein. Wir waren sehr bedrückt, noch nichts gehört zu haben, denn bei einigen Nachbarn kamen die ersten Verwandten aus Braunschweig an, um bei ihnen Unterschlupf zu finden. Die Berichte, die sie von der Feuersbrunst erzählten, waren erschütternd. Unsere Hoffnung sank von Stunde zu Stunde, die Angst vor schlechten Nachrichten lähmte uns und wir hockten länger am Mittagstisch zusammen, als nötig. Jeder malte sich aus, welch schlimmes Schicksal Onkel Franz und Tante Grete ereilt hatte.
Zum Glück sollten wir uns irren!
„ Da!“ Heinz sprang auf und stürmte los. Er rannte die schmale Straße hinauf, auf der sich zwei erschöpfte Gestalten näherten.
„ Onkel Franz“, schrie Heinz und fiel ihm überschwänglich um den Hals, danach umarmte er Tante Grete stürmisch.
Meine Mutter hielt es nicht länger auf dem Stuhl. So schnell habe ich sie noch nie laufen sehen. Glücklich schloss sie ihren Bruder in die Arme und weinte Tränen der Freude.
Das aufkeimende Gefühl war fast wie an Weihnachten, auch wenn der Vergleich hinkte, aber in schlechten Zeiten braucht der Mensch einen Strohhalm, um nicht zu ertrinken. So kam an dem Abend die gute Wurst und selbst erzeugter Käse auf den Tisch, sowie frisch gebackenes Brot und kühles Bier. Es war ein Festmahl, wenn auch mit fadem Beigeschmack.
„ Uns blieb nicht viel Zeit, nachdem der Fliegeralarm durch die Straßen heulte.“ Onkel Franz wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Die Angriffe waren in letzter Zeit heftig gewesen, mir war klar, irgendwann würde es einen vernichtenden Angriff geben. Aber damit hatten selbst wir nicht gerechnet, was da auf uns zukam. Wir rannten mit unseren paar Habseligkeiten zum Bunker. Dort drängelten sich die Menschen, Kinder schrien, Mütter pressten Babys beschützend an ihre Brust und es war kein Überblick über das heillose Durcheinander zu bekommen. Eilig drängelten wir uns in das schützende Gebäude und im nächsten Augenblick fielen die ersten Bomben. Die
Weitere Kostenlose Bücher