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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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liegen Platten, auch darauf schlafen Menschen. Der Raum unter den Pritschen heißt »Metro«.
    Gegenüber der Tür mit dem Auge und dem »Futterloch« ist ein riesiges vergittertes Fenster mit eisernem »Maulkorb«. Der Kommandant vom Dienst, der die Ablösung empfängt, prüft mit einem akkustischen Verfahren die Unversehrtheit des Gitters – er fährt von oben nach unten mit dem Schlüssel daran entlang, demselben, mit dem er die Zellen verschließt. Dieses besondere Geklirr, dazu das Rasseln des Türschlosses, das mit zwei Umdrehungen für die Nacht und tagsüber mit einer Umdrehung geschlossen wird, und das Klappern der Schlüssel gegen die kupferne Gürtelschnalle – dazu also sind die Gürtelschnallen da –, ein Warnsignal des Begleitpostens an seine Kameraden während der Reisen durch die unendlichen Korridore der Butyrka – das sind die drei Elemente der Sinfonie der »konkreten« Gefängnismusik, die man sein Leben lang behält.
    Die Bewohner der »Metro« sitzen tagsüber auf dem Pritschenrand, auf fremden Plätzen, und warten auf einen eigenen Platz. Tagsüber liegen auf den Platten etwa fünfzig Personen. Das sind die, die es zu einem richtigen Platz zum Schlafen und Wohnen gebracht haben. Wer vor den anderen in die Zelle kam – besetzt den besten Platz. Als die besten gelten Plätze am Fenster, so weit wie möglich von der Tür. Manchmal dauerte die Untersuchung nur kurz, und der Häftling kam gar nicht bis ans Fenster, zu einem kleinen frischen Luftzug. Im Winter kroch dieser sichtbare Streifen lebendiger Luft schüchtern die Scheiben hinab und verschwand nach unten, und im Sommer konnte man ihn auch sehen – an der Grenze zur stickigen feuchten Hitze der überfüllten Zelle. Bis zu diesen glücklichen Plätzen brauchte man ein halbes Jahr: von der »Metro« zur stinkenden Latrine. Und von der Latrine – »zu den Sternen«!
    In kalten Wintern hielten sich die Alteingesessenen in der Mitte der Zelle, zogen die Wärme dem Licht vor. Jeden Tag wurde jemand gebracht, jemand geholt. Die »Schlange« zu den Plätzen war nicht nur Zerstreuung. Nein, Gerechtigkeit ist das Wichtigste auf der Welt.
    Der Gefängnismensch ist erregbar. Kolossale Nervenenergie wird für Kleinigkeiten verausgabt, für irgendeinen Streit um den Platz – bis zur Hysterie, bis zur Schlägerei. Und wieviel Geistes- und Körperkräfte, Erfindungsgabe, Scharfsinn und Wagemut werden verausgabt, um ein Stückchen Eisen, einen Bleistiftstummel, ein Stückchen Griffel – von den Gefängnisregeln verbotene und um so begehrtere Dinge – zu erlangen und zu bewahren. Hier beweist sich die Person, in dieser Kleinigkeit.
    Niemand kauft sich hier einen Platz, niemand dingt einen anderen für den Zellenputzdienst. Das ist strengstens verboten. Hier gibt es keine Reichen und Armen, keine Generäle und Soldaten.
    Niemand kann eigenmächtig einen frei werdenden Platz besetzen. Darüber verfügt der gewählte Älteste. Er hat das Recht, den besten Platz an einen Neuling zu geben, wenn dieser ein alter Mann ist.
    Mit jedem Neuling spricht der Älteste selbst. Sehr wichtig ist es, den Neuling zu beruhigen, ihm seelische Zuversicht einzuflößen. Man merkt es immer, wenn jemand nicht zum ersten Mal die Schwelle der Gefängniszelle übertritt. Diese Leute sind ruhiger, ihr Blick lebendiger, fester. Diese Leute betrachten ihre neuen Nachbarn mit sichtlichem Interesse, in dem Wissen, daß die Gemeinschaftszelle nichts sonderlich Bedrohliches hat. Diese Leute unterscheiden sofort, von den ersten Stunden an, einzelne Gesichter und Menschen. Bei denen aber, die zum ersten Mal kommen, braucht es ein paar Tage, bis die Gefängniszelle nicht mehr nur ein Gesicht hat, feindlich, unbegreiflich ist ...
    Anfang Februar – vielleicht auch Ende Januar 1937 ging die Tür der Zelle siebenundsechzig auf, und auf der Schwelle stand ein Mann, silberköpfig, schwarzbrauig und dunkeläugig, im aufgeknöpften Wintermantel mit altem Karakulkragen. In der Hand hielt der Mann ein Leinensäckchen, eine »
torbotschka
«, wie man in der Ukraine sagt. Er war alt, etwa sechzig. Der Älteste wies dem Neuen einen Platz an – nicht in der »Metro«, nicht bei der Latrine, sondern neben mir, in der Mitte der Zelle.
    Der Silberköpfige verstand und dankte dem Ältesten. Die schwarzen Augen funkelten jung. Der Mann betrachtete gierig die Gesichter, als hätte er lange in der Einzelzelle gesessen und atme endlich mit voller Brust die frische Luft der Gemeinschaftszelle.
    Weder Angst

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