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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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noch Schrecken, noch seelischer Schmerz. Der abgetragene Mantelkragen und das zerknitterte Jackett zeigten, daß ihr Besitzer wußte, schon von früher wußte, was das Gefängnis ist, und daß er natürlich zu Hause verhaftet wurde.
    »Wann wurden Sie verhaftet?«
    »Vor zwei Stunden. Zu Hause.«
    »Sind Sie Sozialrevolutionär?«
    Der Mann brach in Gelächter aus. Seine Zähne waren weiß und strahlend, aber war das nicht eine Prothese?
    »Wir sind alle Physiognomen geworden.«
    »Mütterchen Gefängnis!«
    »Ja, ich bin Sozialrevolutionär, noch dazu ein rechter. Wunderbar, daß Sie diesen Unterschied kennen. Ihre Altersgenossen sind in dieser so wichtigen Frage nicht immer beschlagen.«
    Und er fügte ernst hinzu, wobei er mir mit den glühenden schwarzen Augen ohne zu blinzeln direkt in die Augen sah:
    »Ein rechter, ein rechter. Ein richtiger. Die linken Sozialrevolutionäre verstehe ich nicht. Ich habe Achtung vor Spiridonowa , vor Proschjan , aber all ihre Handlungen ... Ich heiße Andrejew, Aleksandr Georgijewitsch.«
    Aleksandr Georgijewitsch schaute sich seine Nachbarn an und schätzte sie ein, kurz, scharf, genau.
    Das Wesen der Repressionen war Andrejew nicht entgangen.
    Wir wuschen immer gemeinsam im Badehaus, dem berühmten Butyrka-Badehaus mit den gelben Kacheln, auf denen man nichts schreiben und nichts einkratzen kann. Doch als Briefkasten diente die Tür, innen mit Eisen beschlagen und außen aus Holz. In die Tür waren die verschiedensten Mitteilungen eingeschnitten. Von Zeit zu Zeit wurden diese Mitteilungen abgeschlagen, abgeschabt, wie man Kreide von der Schiefertafel wischt, neue Bretter wurden aufgezogen, und der »Briefkasten« arbeitete wieder mit voller Kraft.
    Das Badehaus war ein großes Fest. Im Butyrka-Gefängnis waschen alle Untersuchungshäftlinge ihre Wäsche selbst – das ist alte Tradition. Der Staat bietet diese »Dienste« nicht an, und die Familie darf es nicht. Die »anonyme« Lagerwäsche gab es hier natürlich auch nicht. Getrocknet wurde die Wäsche in der Zelle. Fürs Waschen und Wäschewaschen ließ man uns viel Zeit. Niemand beeilte sich.
    Im Badehaus betrachtete ich Andrejews Figur – geschmeidig, dunkelhäutig, keineswegs hinfällig –, dabei war Aleksandr Georgijewitsch schon über sechzig.
    Wir versäumten keinen einzigen Spaziergang – man konnte in der Zelle bleiben, liegen, sich für krank ausgeben. Doch meine persönliche Erfahrung wie auch die Erfahrung Aleksandr Georgijewitschs war, daß man den Spaziergang nicht versäumen darf.
    Jeden Tag ging Andrejew vor dem Mittagessen in der Zelle auf und ab – vom Fenster bis zur Tür. Meistens vor dem Mittagessen.
    »Das ist eine alte Gewohnheit. Tausend Schritt am Tag, das ist meine Tagesnorm. Das Gefängnispensum. Die zwei Gesetze des Gefängnisses – wenig liegen und wenig essen. Der Häftling muß halbhungrig sein, um keinerlei Schwere im Magen zu spüren.«
    »Aleksandr Georgijewitsch, kannten Sie Sawinkow?«
    »Ja, ich habe ihn gekannt. Ich habe ihn im Ausland kennengelernt – auf der Beerdigung von Gerschuni .«
    Andrejew mußte mir nicht erklären, wer Gerschuni war – alle, die er je erwähnte, kannte ich vom Namen und wußte, um wen es sich handelt. Und Andrejew gefiel das sehr. Seine schwarzen Augen funkelten, er lebte auf.
    Die Partei der Sozialrevolutionäre ist eine Partei mit tragischem Schicksal. Die Menschen, die für sie umkamen – Terroristen wie auch Propagandisten –, waren die besten Menschen Rußlands, die Blüte der russischen Intelligenz, in ihren moralischen Qualitäten waren all diese Leute, die ihr Leben gaben und hingaben, würdige Erben des heroischen »Volkswillens« , die Erben Sheljabows , Perowskajas, Michajlows , Kibaltschitschs .
    Diese Leute sind durch das Feuer der schwersten Repressionen gegangen – denn das Leben eines Terroristen dauert ein halbes Jahr, nach Sawinkows Statistik. Sie haben heroisch gelebt und sind heroisch gestorben. Gerschuni, Sasonow , Kaljajew, Spiridonowa, Silberberg – sie alle sind nicht weniger bedeutende Persönlichkeiten als Figner oder Morosow , Sheljabow oder Perowskaja.
    Auch für den Sturz der Selbstherrschaft spielte die Sozialrevolutionäre Partei eine große Rolle. Doch die Geschichte ging einen anderen Weg. Und darin lag die tiefste Tragödie der Partei und ihrer Menschen.
    Solche Gedanken waren mir oft im Kopf herumgegangen.
    Die Begegnung mit Andrejew bestärkte mich in diesen Gedanken.
    »Welchen Tag in Ihrem Leben halten Sie für

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