Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
und spürte weder Form noch Größe des Buchs. Zwei Lesezeichen aus Papier steckten in dem Bändchen.
    »Tragen Sie mir die beiden Gedichte laut vor. Wo die Lesezeichen sind.«
    »›Es sang ein Mädchen im Kirchenchore‹ . ›Im blauen fernen Schlafzimmerchen‹ . Irgendwann habe ich diese Gedichte auswendig gekonnt.«
    »Sieh an! Tragen Sie vor.«
    Ich fing an, aber vergaß die Verse sofort. Mein Gedächtnis weigerte sich, die Gedichte »herauszugeben«. Die Welt, aus der ich ins Krankenhaus gekommen war, kam ohne Gedichte aus. In meinem Leben hatte es Tage gegeben, und nicht wenige, an denen ich mich an kein Gedicht erinnern konnte und an kein Gedicht denken wollte. Ich war darüber froh gewesen, wie über die Befreiung von einer nutzlosen Last – die ich nicht brauchte in meinem Kampf, in den Untergeschossen des Lebens, in den Kellern des Lebens, in den Müllgruben des Lebens. Gedichte störten mich dort nur.
    »Lesen Sie aus dem Buch.«
    Ich las beide Gedichte vor, und Nina Semjonowna begann zu weinen.
    »Verstehen Sie, der Junge ist tot, tot! Gehen Sie und lesen Sie Blok.«
    Gierig las ich Blok und las ihn wieder, die ganze Nacht, die ganze Nachtwache hindurch. Außer dem »Mädchen« und dem »Blauen Schlafzimmerchen« war dort »Beschwörung durch Feuer und Finsternis« , waren dort die feurigen, Wolochowa gewidmeten Gedichte. Diese Gedichte riefen vollkommen andere Kräfte wach. Nach drei Tagen gab ich Nina Semjonowna das Buch zurück.
    »Sie haben gedacht, daß ich Ihnen das Evangelium gebe. Das Evangelium habe ich auch. Hier ...« Ein Bändchen, ähnlich wie Blok, aber nicht schmutzig-blau, sondern dunkelbraun, wurde aus der Schublade gezogen. »Lesen Sie den Apostel Paulus. Die Korintherbriefe ... Das hier.«
    »Ich habe keinen Sinn für Religion, Nina Semjonowna. Aber natürlich habe ich große Achtung ...«
    »Was? Sie, der Sie tausend Leben gelebt haben? Sie – der Auferstandene?.. Sie haben keinen Sinn für Religion? Haben Sie hier zu wenig Tragödien gesehen?«
    Nina Semjonowna runzelte die Stirn, ihr Gesicht wurde dunkel, das graue Haar fiel auseinander und kroch unter dem weißen Arztmützchen hervor.
    »Sie werden Bücher lesen ... Zeitschriften.«
    »Die Zeitschrift des Moskauer Patriarchats?«
    »Nein, nicht des Moskauer Patriarchats, sondern von dort ...«
    Nina Semjonowna schwenkte den weißen Ärmel, der einem Engelsflügel glich, und zeigte nach oben ... Wohin? Über den Stacheldraht der Zone hinaus? Über das Krankenhaus hinaus? Über den Zaun der Freiensiedlung? Übers Meer? Über die Berge? Über die Landesgrenze? Über die Scheidelinie von Himmel und Erde?
    »Nein«, sagte ich mit unhörbarer Stimme, erstarrend angesichts der eigenen inneren Verödung. »Gibt es denn aus menschlichen Tragödien nur den religiösen Ausweg?« Die Sätze drehten sich in meinem Hirn und schmerzten in den Hirnzellen. Ich hatte gedacht, ich hätte solche Worte längst vergessen. Und da waren die Worte wiedergekommen – und vor allem gehorchten sie meinem eigenen Willen. Das kam einem Wunder gleich. Ich wiederholte noch einmal, als läse ich im Buch Geschriebenes oder Gedrucktes: »Gibt es denn aus menschlichen Tragödien nur den religiösen Ausweg?«
    »Nur ihn, nur ihn. Gehen Sie.«
    Ich ging, das Evangelium in der Tasche, und dachte aus irgendeinem Grund nicht an die Korinther, nicht an den Apostel Paulus, nicht an das Wunder des menschlichen Gedächtnisses, das eben geschehene unerklärliche Wunder, sondern an etwas ganz anderes. Und als ich mir dieses »andere« vor Augen geführt hatte, begriff ich, ich war wieder zurückgekehrt in die Lagerwelt, die gewohnte Lagerwelt, die Möglichkeit des »religiösen Auswegs« war zu unvorhergesehen und zu unirdisch. Das Evangelium in der Tasche dachte ich nur an eins: würde ich heute ein Abendessen bekommen.
    Olga Tomassownas warme Finger nahmen mich am Ellbogen. Ihre dunklen Augen lachten.
    »Gehen Sie, gehen Sie«, sagte Olga Tomassowna, und schob mich zur Ausgangstür. »Sie sind noch nicht bekehrt. Solche bekommen bei uns kein Abendessen.«
    Am folgenden Tag gab ich Nina Semjonowna das Evangelium zurück, und mit einer schroffen Bewegung verbarg sie das Buch im Tisch.
    »Ihr Praktikum endet morgen. Kommen Sie, ich unterschreibe Ihre Karte, Ihre Anrechnung. Und hier ist ein Geschenk für Sie – ein Stethoskop.«
    1963

Das beste Lob
    Es war einmal eine Schönheit. Marja Michajlowna Dobroljubowa. Blok schrieb über sie in seinem Tagebuch: die Anführer der

Weitere Kostenlose Bücher