Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Revolution gehorchten ihr widerspruchslos, wäre sie anders gewesen und nicht umgekommen – der Lauf der russischen Revolution hätte ein anderer sein können. Wäre sie anders gewesen!
Jede russische Generation – und nicht nur russische, bringt die gleiche Zahl von Giganten und Nullen hervor. Von Genies und Talenten. Und der Zeit kommt es zu, dem Genie, dem Talent den Weg zu ebnen – oder es durch einen Zufall umzubringen, oder es mit Lob oder dem Gefängnis zu ersticken.
Ist denn Mascha Dobroljubowa geringer als Sofja Perowskaja . Doch Sofja Perowskajas Name steht auf den Straßenschildern, und Marja Dobroljubowa ist vergessen.
Selbst ihr Bruder ist nicht so vergessen – der Poet und Sektierer Aleksandr Dobroljubow .
Als Schönheit und Absolventin des Smolnyj-Instituts kannte Marja Dobroljubowa ihren Platz im Leben genau. Ihre Opferbereitschaft, ihr Wille zu Leben und Tod war sehr groß.
Als junge Frau arbeitet sie »für die Hungernden«. Als barmherzige Schwester im Russisch-Japanischen Krieg.
All diese Prüfungen erhöhen moralisch und physisch nur die Ansprüche an sich selbst.
Zwischen den beiden Revolutionen nähert sich Marja Dobroljubowa den Sozialrevolutionären an. Sie wird nicht »in die Propaganda« gehen. Kleine Aufgaben sind nicht nach dem Charakter der jungen, in den Stürmen des Lebens schon erprobten Frau.
Der Terror, ein »Anschlag« – davon träumt, danach verlangt es Mascha. Mascha sucht die Zustimmung der Führer zu erreichen. »Das Leben eines Terroristen dauert ein halbes Jahr«, wie Sawinkow sagte. Sie bekommt einen Revolver und begibt sich »zum Anschlag«.
Und findet nicht die Kraft zum Töten. Ihr ganzes früheres Leben wehrt sich gegen die letzte Entscheidung.
Der Kampf um das Leben der Verhungernden, der Kampf um das Leben der Verwundeten.
Jetzt aber muß sie den Tod ins Leben bringen.
Die lebendige Arbeit mit Menschen und Maschas heroische Vergangenheit hatten ihr einen schlechten Dienst erwiesen als Vorbereitung auf das Attentat.
Man muß zu sehr Theoretiker, zu sehr Dogmatiker sein, um vom lebendigen Leben abzusehen. Mascha sieht, daß ein fremder Wille sie lenkt, und sie ist davon betroffen, schämt sich für sich selbst.
Mascha findet nicht die Kraft zum Schießen. Und kann in der Schande, der höchst akuten Seelenkrise nicht leben. Mascha Dobroljubowa schießt sich in den Mund.
Mascha war 29 Jahre alt.
Diesen lichten, leidenschaftlichen russischen Namen hatte ich zum ersten Mal im Butyrka-Gefängnis gehört.
Aleksandr Georgijewitsch Andrejew, der Generalsekretär der Vereinigung der politischen katorga- Häftlinge, erzählte mir von Mascha.
»Im Terror gibt es eine Regel. Wenn ein Attentat aus irgendeinem Grund nicht gelingt – der Werfende verliert den Kopf, der Zünder funktioniert nicht oder sonst etwas –, ein zweites Mal stellt man den Ausführenden nicht hin. Wenn die Terroristen dieselben sind wie schon beim ersten, mißlungenen Mal – ist mit dem Scheitern zu rechnen.«
»Und Kaljajew ?«
»Kaljajew ist eine Ausnahme.«
Die Erfahrung, die Statistik, die Untergrunderfahrung besagt, daß man sich zu einem Schritt von solcher Selbstaufopferung und Wucht innerlich nur ein einziges Mal aufraffen kann. Marja Michajlowna Dobroljubowas Schicksal ist das bekannteste Beispiel in unserer mündlichen Untergrund-Chrestomatie.
»Solche hier haben wir in die Kampfgruppen aufgenommen«, und der silberköpfige, dunkelhäutige Andrejew zeigte mit einer heftigen Geste auf Stepanow, der auf der Pritsche saß, die Knie mit den Armen umschlungen. Stepanow war ein junger Monteur der Stromnetze des MOGES , wortkarg, unauffällig, mit einem überraschenden Feuer in den dunkelblauen Augen. Wortlos nahm er die Schüssel entgegen, wortlos aß er, wortlos nahm er den Nachschlag entgegen, stundenlang saß er auf dem Pritschenrand, die Knie mit den Armen umschlungen, und machte sich seine Gedanken. Niemand in der Zelle wußte, wofür Stepanow zur Verantwortung gezogen wurde. Das wußte nicht einmal der umgängliche Aleksandr Filippowitsch Rynditsch, ein Historiker.
In der Zelle sind achtzig Personen, Platz ist darin für fünfundzwanzig. Die Eisenpritschen, an den Wänden festgewachsen, sind mit Holzplatten bedeckt, grau gestrichen, passend zur Farbe der Wände. Bei der Latrine, an der Tür – ein Stapel Reserveplatten, für die Nacht wird man den Durchgang fast völlig überdecken, man läßt nur zwei Öffnungen, zum Untertauchen unter die Pritschen –, auch dort
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