Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
wüst: »In die Freiheit! In die Freiheit!« und rutschte im Anfall vom Gitter herab. Die Leute beugten sich über den Epileptiker. Jemand hielt Aleksejew die Arme, den Kopf, die Beine.
Und Aleksandr Georgijewitsch zeigte auf den Epileptiker und sagte: »Der erste Tschekist.«
»Mein Untersuchungsführer ist ein junger Kerl, das ist das Unglück. Er hat keine Ahnung von Revolutionären, und die Sozialrevolutionäre sind für ihn eine Art Mastodone. Er schreit bloß: Gestehen Sie! Denken Sie nach!
Ich sage ihm: ›Wissen Sie, was ein Sozialrevolutionär ist?‹ – ›Na?‹ – ›Wenn ich Ihnen sage, ich habe es nicht getan, dann habe ich es nicht getan. Und wenn ich Sie anlügen will – dann werden mich keine Drohungen davon abbringen. Ein wenig zumindest sollten Sie die Geschichte kennen ...‹«
Das Gespräch war nach dem Verhör, aber man merkte Andrejews Erzählung keine Aufregung an.
»Nein, er schreit mich nicht an. Ich bin zu alt. Er sagt nur ›denken Sie nach‹. Und wir sitzen. Stundenlang. Dann unterschreibe ich das Protokoll, und wir trennen uns bis zum nächsten Tag.
Ich habe mir eine Methode ausgedacht, mich nicht zu langweilen während der Verhöre. Ich zähle die Muster an der Wand. Die Wand ist tapeziert. Eintausendvierhundertzweiundsechzig mal dasselbe Muster. Das ist die Überprüfung der heutigen Wand. Ich schalte die Aufmerksamkeit aus. Repressionen hat es gegeben und wird es geben. Solange der Staat besteht.«
Die Erfahrung, die heroische Erfahrung des politischen
katorga
-Häftlings, so hatte es geschienen, wurde nicht gebraucht für das neue Leben, das einen neuen Weg ging. Und plötzlich zeigte sich, daß der Weg keineswegs neu war, daß man alles brauchte: die Erinnerungen an Gerschuni wie das Verhalten bei Verhören oder auch die Fähigkeit, während des Verhörs die Tapetenmuster an der Wand zu zählen. Und die heroischen Schatten der Kameraden, die längst gestorben waren in der zaristischen
katorga
, am Galgen.
Andrejews lebendige und gehobene Stimmung entsprang nicht jener Nervenreizung, die fast alle erleben, wenn sie ins Gefängnis kommen. Untersuchungshäftlinge lachen ja auch öfter als nötig, aus allerlei nichtigen Anlässen. Dieses Lachen, das Schneidige, ist eine Abwehrreaktion des Häftlings, besonders vor Menschen.
Andrejews Lebendigkeit war anderer Art. Sie war gleichsam die innere Genugtuung darüber, wieder in der Position zu sein, die er sein Leben lang innehatte, die ihm teuer war und – so hatte es geschienen – der Vergangenheit angehörte. Und es zeigte sich, doch, er wurde von der Zeit noch gebraucht.
Andrejew beschäftigen nicht Wahrheit oder Falschheit der Anschuldigungen. Er wußte, was Massenrepressionen sind, und wunderte sich über nichts.
In der Zelle wohnte Ljonka, ein siebzehnjähriger Junge aus einem entlegenen Dörfchen des Kreises Tuma im Moskauer Gebiet. Er konnte nicht lesen und schreiben und hielt das Butyrka-Gefängnis für das größte Glück – man konnte sich den »Bauch vollschlagen«, und was für gute Leute! Ljonka erwarb im halben Jahr seiner Untersuchung mehr Wissen als in seinem ganzen bisherigen Leben. Denn in der Zelle wurden jeden Tag Vorträge gehalten, und auch wenn das Gefängnisgedächtnis Gehörtes und Gelesenes schlecht aufnimmt, prägte sich Ljonkas Hirn dennoch viel Neues, Wichtiges ein. Das eigene »Verfahren« bekümmerte Ljonka nicht. Er wurde desselben beschuldigt wie Tschechows Übeltäter – 1937 hatte er Schraubenmuttern von den Eisenbahngleisen losgeschraubt, als Angelblei. Das war offensichtlich achtundfünfzig – sieben, Sabotage. Aber Ljonka hatte auch noch achtundfünfzig – acht: Terror!
»Und was bedeutet das?«, wurde Ljonka während eines Gesprächs gefragt.
»Der Richter rannte mir mit dem Revolver hinterher.«
Über diese Antwort wurde viel gelacht. Aber Andrejew sagte mir leise und ernst:
»Die Politik kennt den Begriff der Schuld nicht. Natürlich, Ljonka hin oder her, aber Michail Goz war ja gelähmt.«
Das war der glückselige Frühling des Jahres siebenunddreißig, als bei der Untersuchung noch nicht geschlagen wurde, als »fünf Jahre« der Stempelabdruck der Urteile der Sonderkollegien war. »Fünf Jahre ferne Lager«, wie sich die ukrainischen NKWD-Leute ausdrückten. Tschekisten nannte man die Mitarbeiter dieser Institutionen damals noch nicht.
Man freute sich über die »Fünfer« – denn der russische Mensch freut sich, daß es nicht zehn, nicht fünfundzwanzig sind, nicht die
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