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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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immer an etwas anderes. An das Vergangene. Das Gestrige. Versuche, das Heutige nicht zu sehen.«
    »Das Heutige ist gar nicht so schlecht, gar nicht so schrecklich.«
    »Möchten Sie noch Suppe?«
    »Bitte.«
    Mir war nicht nach dunklen Augen. Die Lektion bei Nina Semjonowna, das Erlernen der Heilkunst war mir wichtiger als alles auf der Welt.
    Nina Semjonowna wohnte in der Abteilung, in einem Zimmer, das an der Kolyma »Kabäuschen« hieß. Niemand außer seiner Bewohnerin ging dort jemals hinein. Aufräumen und den Boden fegen tat die Bewohnerin selbst. Ob sie den Boden auch selbst wischte, weiß ich nicht. Durch die offene Tür sah man ein hartes, schlecht bereitetes Bett, einen Krankenhaus-Nachttisch, einen Hocker, geweißte Wände. Neben dem Kabäuschen gab es noch ein kleines Kabinett, aber seine Tür ging in den Krankensaal und nicht in den Flur. In dem kleinen Kabinett – eine Art Schreibtisch, zwei Hocker, eine Liege.
    Alles war wie in anderen Abteilungen, und irgendwie doch anders: es gab hier wohl keine Blumen – weder im Kabäuschen noch im Krankensaal. Vielleicht waren Nina Semjonownas Strenge, ihr mangelndes Lächeln schuld? Das dunkelgrüne, smaragdene Feuer ihrer Augen blitzte irgendwie unpassend, zur Unzeit. Ihre Augen blitzten ohne Verbindung zum Gespräch, zur Arbeit. Doch die Augen lebten nicht für sich – sie lebten mit den Gefühlen und Gedanken Nina Semjonownas.
    In der Abteilung gab es keine Freundschaft, auch nicht die oberflächlichste Freundschaft unter den Sanitäterinnen und Schwestern. Alle kamen zur Arbeit, zum Dienst, zur Wache, und man sah, daß das wirkliche Leben der Mitarbeiter der Dritten Inneren Abteilung in der Frauenbaracke stattfand, nach dem Dienst, nach der Arbeit. Gewöhnlich haftet, hängt in Lagerkrankenhäusern das wahre Leben an der Arbeitsstelle und der Arbeitszeit – man kommt froh in die Abteilung, um möglichst schnell der verdammten Baracke zu entgehen.
    In der Dritten Inneren Abteilung gab es keine Freundschaft. Die Sanitäterinnen und Schwestern liebten Nina Semjonowna nicht. Sie achteten sie nur. Sie hatten Angst. Hatten Angst vor dem schrecklichen »Eigen«, der Sowchose an der Kolyma, wo im Wald wie auf dem Acker gefangene Frauen arbeiten.
    Alle hatten Angst, außer der Essensverteilerin Schura.
    »Männer hierherzubringen ist schwer«, sagte Schura und schmiß die gewaschenen Schüsseln mit Geschepper in den Schrank. »Aber ich bin Gottseidank schon im fünften Monat. Bald schicken sie mich nach ›Elgen‹ – und lassen mich frei! Die Mamas läßt man jedes Jahr frei: für unsereins die einzige Chance.«
    »Achtundfünfziger läßt man nicht frei.«
    »Ich habe Punkt zehn. Punkt zehn läßt man frei. Trotzkisten nicht. Katjuscha hat hier im letzten Jahr auf meiner Stelle gearbeitet. Ihr Mann, Fedja, lebt jetzt mit mir – Katjuschka und ihr Kind wurden freigelassen, sie kam sich verabschieden. Fedja sagt: ›Denk daran, ich habe dich befreit.‹ Das war nicht mit dem Ende der Haftzeit, durch Amnestie, durch den grünen Staatsanwalt , sondern mit eigenen Mitteln, den verläßlichsten ... Und wirklich – er hat sie befreit. Wie es scheint, hat er auch mich befreit ...«
    Schura zeigte vertraulich auf ihren Bauch.
    »Bestimmt hat er dich befreit.«
    »Ganz genau. Ich verlasse diese verdammte Abteilung.«
    »Und was gibt es hier für ein Geheimnis, Schura?«
    »Du wirst selbst sehen. Laßt uns lieber – morgen ist Sonntag – eine Medizinsuppe kochen. Auch wenn Nina Semjonowna diese Feste nicht besonders mag ... Erlauben wird sie es ...«
    Die Medizinsuppe war eine Suppe aus Arzneien – allen möglichen Wurzeln und Fleischbrühewürfeln in physiologischer Kochsalzlösung –, man braucht gar kein Salz, wie mir Schura begeistert mitteilte ... Heidelbeer- und Himbeerspeise, Hagebutten, Plinsen.
    Das medizinische Mittagessen wurde von allen gutgeheißen. Nina Semjonowna aß ihre Portion und stand auf.
    »Kommen Sie in mein Kabinett.«
    Ich trat ein.
    »Ich habe ein Buch für Sie.«
    Nina Semjonowna kramte in der Schublade und zog ein Buch hervor, einem Gebetbuch ähnlich.
    »Das Evangelium?«
    »Nein, nicht das Evangelium«, sagte Nina Semjonowna langsam, und ihre grünen Augen glänzten. »Nein, nicht das Evangelium. Das ist Blok. Nehmen Sie.« Andächtig und schüchtern nahm ich das schmutzig-graue Bändchen der kleinen Serie der »Dichter-Bibliothek« in die Hand. Mit der groben, noch der Grubenhaut meiner erfrorenen Finger fuhr ich über den Rücken

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