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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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den herausragendsten?«
    »Über die Antwort brauche ich gar nicht nachzudenken – die Antwort steht längst fest. Dieser Tag ist der 12. März 1917. Vor dem Krieg wurde ich in Taschkent verurteilt. Nach Artikel 102. Sechs Jahre
kartorga
. Zuchthaus in Pskow und Wladimir. Am 12. März 1917 kam ich frei. Heute ist der 12. März 1937, und ich bin im Gefängnis!«
    Vor uns zogen die Menschen des Butyrka-Gefängnisses vorüber, die Andrejew nah und trotzderm fern waren, die sein Mitleid, seine Feindschaft, sein Mitgefühl weckten.
    Arkadij Dsidsijewskij, der berühmte Arkascha des Bürgerkriegs, der Schrecken aller Väterchen der Ukraine.
    Diesen Namen nannte Wyschinskij in Verhören des Pjatakow-Prozesses . Also starb er erst später, war die Rede von dem künftigen Toten Arkadij Dsidsijewskij. Einem Halbverrückten nach der Lubjanka und Lefortowo. Mit den rundlichen Greisenhänden strich er bunte Taschentücher auf den Knien glatt. Drei Taschentücher waren es. »Das sind meine Töchter – Nina, Lida und Nata.«
    Oder Sweschnikow, ein Ingenieur aus dem Chemiebau, dem der Untersuchungsführer sagte: da ist dein faschistischer Platz, du Aas. Der Eisenbahner Gudkow: »Ich hatte Schallplatten mit Trotzkij-Reden, und meine Frau – hat es gemeldet ...« Wasja Shaworonkow: »Im Politzirkel hat mich der Lehrer gefragt – ›und wenn die Sowjetmacht nicht wäre, wo würdest du, Shaworonkow, dann arbeiten?‹ ›Ich würde genauso im Depot arbeiten, wie jetzt ...‹«
    Und noch ein Lokführer, Vertreter des Moskauer Zentrums der »Anekdotenfreunde« (bei Gott, das ist nicht gelogen!). Die Freunde trafen sich an Samstagen mit ihren Familien und erzählten einander Witze. Fünf Jahre, die Kolyma, der Tod.
    Mischa Wygon – Student am Institut für Fernmeldetechnik: »Alles, was ich im Gefängnis gesehen habe, habe ich dem Genossen Stalin geschrieben.« Drei Jahre. Mischa Wygon überlebte, indem er sich töricht lossagte von all seinen früheren Kameraden und sie verleugnete, Mischa überlebte die Erschießungen und wurde selbst Schichtchef im selben Bergwerk »Partisan«, in dem alle seine Kameraden umkamen, vernichtet wurden.
    Sinjukow, Chef der Kaderabteilung des Moskauer Parteikomitees. Heute hat er eine Erklärung geschrieben: »Ich wiege mich in der Hoffnung, daß die Sowjetmacht Gesetze hat.« Ich wiege mich!
    Kostja und Nika, fünfzehnjährige Schüler aus Moskau, die in der Zelle mit einem aus Lumpen genähten Ball Fußball spielten – Terroristen, die Chandshjan getötet hatten. Viel später erfuhr ich, daß Berija Chandshjan im eigenen Arbeitszimmer erschossen hat. Und die Kinder, denen dieser Mord vorgeworfen wurde, Kostja und Nika, starben 1938 an der Kolyma, starben, obwohl man sie nicht einmal zur Arbeit zwang –, sie starben einfach an der Kälte.
    Kapitän Schneider aus der Komintern. Ein geborener Redner, ein heiterer Mensch, bietet bei Veranstaltungen in der Zelle Kunststücke dar.
    Ljonja der Übeltäter, der im Gleisbett Schraubenmuttern abgeschraubt hat, ein Bewohner des Kreises Tuma im Moskauer Gebiet.
    Falkowskij, dessen Verbrechen als 58-10, als Agitation qualifiziert wurde; als Belege galten Falkowskijs Briefe an seine Braut und ihre Briefe an ihn. Ein Briefwechsel braucht zwei oder mehr Personen. Also 58, Punkt 11 – organisiert –, was es sehr viel schlimmer machte.
    Akeksandr Georgijewitsch sagte leise: »Hier gibt es nur Märtyrer. Hier gibt es keine Helden.«
    »In einer meiner ›Prozeßakten‹ gibt es einen Vermerk Nikolajs II. Der Kriegsminister hatte den Zaren von der Ausraubung eines Minenboots in Sewastopol unterrichtet. Wir hatten Waffen gebraucht, und wir hatten sie von dem Kriegsschiff genommen. Der Zar schrieb an den Rand des Berichts: ›garstige Geschichte‹.
    Ich begann als Gymnasiast, in Odessa. Meine erste Aufgabe – im Theater eine Bombe zu werfen. Das war eine Stinkbombe, ungefährlich. Das war sozusagen die Prüfung. Und dann wurde es ernst, wichtiger. Ich ging nicht in die Propaganda. All diese Zirkel, Gespräche – ein Resultat ist sehr schwer zu sehen und zu fühlen. Ich ging in den Terror. Das ist es wenigstens, Knall – und Fall!
    Ich war Generalsekretär der Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge, bis unsere Vereinigung aufgelöst wurde.«
    Eine riesige schwarze Figur stürmte zum Fenster, klammerte sich an die Gefängnisgitter und heulte auf. Der Epileptiker Aleksejew, bärenhaft, blauäugig, ein ehemaliger Tschekist, rüttelte am Gitter und brüllte

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