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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Doktor Doktor, eine der unheilvollsten Figuren der Kolyma ... »Stell dich hin, wie es sich gehört.«
    Ich stand »wie es sich gehört«, aber blieb ruhig. Einen ausgebildeten Feldscher mit Diplom wirft man nicht jedem Raubtier zum Zerreißen vor, liefert man nicht an Doktor Doktor aus – es war das Jahr siebenundvierzig, nicht siebenunddreißig, und ich, der ich Dinge gesehen hatte, die sich Doktor Doktor nicht einmal ausdenken konnte, blieb ruhig und wartete auf eins – daß der Chef sich entfernt. Ich war Oberfeldscher der chirurgischen Abteilung.
    Die Hetze hatte kürzlich begonnen, nachdem Doktor Doktor in meiner Lagerakte die Vorstrafe mit dem Kürzel »KRTD« gefunden hatte; Doktor Doktor war Tschekist, ein Mann der Politabteilung, der nicht wenige »KRTD« in den Tod geschickt hatte, und jetzt tauchte in seinen Händen, in seinem Krankenhaus, als Absolvent seines Lehrgangs – ein Feldscher auf, der zu liquidieren war.
    Doktor Doktor versuchte, die Hilfe des NKWD-Bevollmächtigten in Anspruch zu nehmen. Doch Bevollmächtigter war der Frontkämpfer Baklanow, ein junger Mann, aus dem Krieg. Die unsauberen Geschichten von Doktor Doktor selbst – eigene Fischer brachten für ihn Fisch, Jäger erlegten Wild, die Selbstbedienung der Leitung war in vollem Gange, und Doktor Doktor fand bei Baklanow kein Mitgefühl.
    »Aber aus Ihrem eigenen Lehrgang, er hat gerade abgeschlossen. Sie selbst haben ihn ja aufgenommen.«
    »Das hat die Kaderabteilung verschlafen. Wie jetzt dahintersteigen.«
    »Nun«, sagte der Bevollmächtigte. »Wenn er irgendeinen Verstoß, ein Vergehen ... kurz, dann kassieren wir ihn. Helfen wir Ihnen.«
    Doktor Doktor beschwerte sich über die schlechten Zeiten und wartete geduldig. Auch Chefs können geduldig auf die Fehler ihrer Untergebenen warten.
    Das zentrale Lagerkrankenhaus war groß, tausend Betten. Es gab gefangene Ärzte aus allen Fachgebieten. Die freie Leitung hatte darum gebeten und die Erlaubnis erhalten, in der chirurgischen Abteilung zwei Zimmer für Freie zu eröffnen – einen Männer- und einen Frauensaal für Frischoperierte. In meinem Saal lag eine junge Frau, die mit Blinddarmentzündung eingeliefert worden war; ihre Blinddarmentzündung wurde nicht operiert, sondern konservativ behandelt. Die junge Frau war forsch, Sekretärin der Komsomolorganisation der Bergwerksverwaltung, wie es scheint. Als man sie einlieferte, zeigte der galante Chirurg Braude der neuen Patientin die Abteilung und erzählte etwas von ... Brüchen und Spondylitis und zeigte ihr nacheinander sämtliche Abteilungen. Draußen herrschte sechzig Grad Frost, und auf der Transfusionsstation gab es keine Öfen – der Frost hatte das gesamte Fenster bereift, und Metall konnte man nicht mit den bloßen Händen berühren, doch der galante Chirurg riß die Tür zur Transfusionsstation auf, und alles fuhr zurück, in den Korridor.
    »Und hier nehmen wir gewöhnlich die Frauen auf.«
    »Wahrscheinlich ohne besonderen Erfolg«, sagte die Besucherin und blies sich in die Hände.
    Der Chirurg wurde verlegen.
    Und diese forsche junge Frau schneite bei mir in der Bereitschaft herein. Dort standen gefrorene Preiselbeeren, ein Schälchen Preiselbeeren, und wir sprachen bis spät in die Nacht. Doch irgendwann, gegen Mitternacht, wurde die Tür zur Bereitschaft aufgerissen – und Doktor Doktor trat ein. Ohne Kittel, in Lederjacke.
    »In der Abteilung ist alles in Ordnung.«
    »Das sehe ich. Und wer sind Sie?«, wandte sich Doktor Doktor an die junge Frau.
    »Ich bin eine Kranke. Ich liege hier im Frauensaal. Ich wollte mir ein Fieberthermometer holen.«
    »Morgen sind Sie nicht mehr hier. Ich liquidiere diesen Puff.«
    »Puff? Wer ist denn das?«, sagte die junge Frau.
    »Das ist der Krankenhaus-Chef.«
    »Ach, das ist also Doktor Doktor. Ich weiß, ich weiß. Passiert dir was wegen mir? Wegen der Preiselbeeren?«
    »Mir passiert nichts.«
    »Na, für alle Fälle gehe ich morgen bei ihm vorbei. Ich werde ihm so den Marsch blasen, daß er begreift, wer er ist. Und wenn sie dich anrühren, ich gebe dir das Ehrenwort ...«
    »Mir passiert nichts.«
    Die junge Frau wurde nicht entlassen, ihr Besuch bei dem Krankenhaus-Chef fand statt, und alles beruhigte sich bis zur ersten Vollversammlung, auf der Doktor Doktor einen Vortrag über den Verfall der Disziplin hielt.
    »Da sitzt in der chirurgischen Abteilung ein Feldscher mit einer jungen Frau im Operationssaal«, Doktor Doktor verwechselte die Bereitschaft mit dem

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