Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
Wache entlassen, womöglich stellen sie mich vor Gericht. Alles schon vorgekommen.«
    Ja, Braude wußte, daß alles schon vorgekommen war. Vor einigen Jahren hatte man im Winter dreitausend Mann zu Fuß in einen Hafen geschickt, wo ein Sturm die Lagerhäuser am Ufer vernichtet hatte. In der ganzen Etappe blieben von den dreitausend Mann etwa dreihundert am Leben. Und der stellvertretende Verwaltungschef, der die Verfügung über den Abmarsch der Etappe unterschrieben hatte, wurde geopfert und vor Gericht gestellt.
    Bis zum Abend waren Braude und die Feldscher damit beschäftigt, Kugeln zu entfernen, zu amputieren, zu verbinden. Die Verwundeten waren alle Wachsoldaten – kein einziger Flüchtiger war darunter.
    Am nächsten Abend wurden wieder Verletzte gebracht. Von Wachoffizieren umringt, trugen zwei Soldaten eine Trage mit dem ersten und einzigen Flüchtigen, den Braude zu sehen bekam. Der Flüchtige trug eine Militäruniform und unterschied sich von den Soldaten nur durch seine Unrasiertheit. Er hatte Brüche der Unterschenkel und der linken Schulter durch Schüsse und eine Kopfverletzung mit Schädigung des Schädelknochens. Der Flüchtling war ohne Bewußtsein.
    Braude erwies ihm erste Hilfe und ließ den Verwundeten, auf Befehl Artemjews, mit Begleitposten zu sich ins große Krankenhaus bringen, wo die Voraussetzungen für eine schwere Operation vorhanden waren.
    Alles war zu Ende. In der Nähe stand ein Militärlastwagen, mit einer Plane bedeckt – dort waren die Körper der getöteten Flüchtlinge gestapelt. Daneben ein zweites Fahrzeug mit den Körpern der getöteten Soldaten.
    Man hätte die Armee nach Hause schicken können nach diesem Sieg, doch noch viele Tage fuhren Lastwagen mit Soldaten auf allen Abschnitten der zweitausendkilometerlangen Chaussee hin und her.
    Der zwölfte – Major Pugatschow – fehlte.
    Soldatow wurde lange kuriert und auskuriert – und anschließend erschossen. Übrigens war dies das einzige Todesurteil von sechzig verhängten Strafen – so viele Freunde und Bekannte der Flüchtigen kamen vor das Tribunal. Der Chef des örtlichen Lagers bekam zehn Jahre. Die Chefin der Sanitätsabteilung Doktor Potanina wurde vom Gericht freigesprochen; gleich nach Abschluß des Prozesses wechselte sie die Arbeitsstelle. Generalmajor Artemjew hatte es aus den Sternen gelesen – er verlor seinen Posten, wurde vom Dienst in der Wache entlassen.
    ____
    Pugatschow war mit Mühe durch die schmale Öffnung in die Höhle hinuntergekrochen – das war eine Bärenhöhle, das Winterquartier des Tiers, das sie längst verlassen hat und durch die Tajga wandert. An den Wänden der Höhle und den Steinen ihres Bodens fand er Bärenhaare.
    Wie schnell das alles zu Ende ging, dachte Pugatschow Sie werden mit Hunden kommen und mich finden. Und ergreifen.
    Und in der Höhle liegend erinnerte er sich an sein Leben – ein schweres Männerleben, ein Leben, das jetzt auf einem Bärenpfad in der Tajga endet. Er erinnerte sich an Menschen – an alle, die er geschätzt und geliebt hat, angefangen von der eigenen Mutter. Er erinnerte sich an seine Schullehrerin Marija Iwanowna, die eine Wattejacke trug, mit verschossenem, abgeschabten schwarzen Samt besetzt. Und viele, viele andere noch, mit denen ihn das Schicksal zusammengeführt hatte, rief er sich ins Gedächtnis.
    Aber die besten, die würdigsten waren seine elf toten Kameraden. Keiner von jenen, den anderen Menschen in seinem Leben, hatte so viel an Enttäuschungen, Betrug und Lüge erlebt. Und in dieser nördlichen Hölle hatten sie die Kraft gefunden, an ihn, Pugatschow, zu glauben, und die Hände nach der Freiheit auszustrecken. Und im Gefecht zu sterben. Ja, das waren die besten Leute in seinem Leben.
    Pugatschow pflückte Preiselbeeren, die in Büschen direkt auf dem Fels am Eingang der Höhle wuchsen. Graublau und runzlig, platzten die vorjährigen Beeren in seinen Fingern, und er leckte die Finger ab. Die überreifen Beeren waren geschmacklos wie geschmolzener Schnee. Die Beerenschale klebte an seiner trockenen Zunge.
    Ja, das waren die besten Leute gewesen. Und auch Aschots Nachnamen wußte er jetzt – Chatschaturjan.
    Major Pugatschow rief sie sich alle ins Gedächtnis – einen nach dem anderen – und lächelte jedem zu. Dann schob er den Pistolenlauf in den Mund und drückte zum letzten Mal im Leben ab.
    1959

Der Krankenhaus-Chef
    »Warte, dich erwischen wir noch, dich kriegen wir noch dran«, drohte mir auf Ganovenart der Krankenhaus-Chef,

Weitere Kostenlose Bücher