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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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verstummte, und es schoß nur ein Gewehr.
    Chrustaljow und Major Pugatschow schafften es viel höher, bis hinauf auf den Paß.
    »Geh du allein«, sagte der Major zu Chrustaljow, »ich schieße.«
    Er schoß ohne Eile auf jeden, der sich zeigte. Chrustaljow kam zurück, er schrie:
    »Sie kommen!«, und fiel hin. Hinter dem Felsblock hervor kamen Leute gerannt.
    Pugatschow stürmte los, schoß auf die Laufenden und warf sich vom Paß des Hochplateaus in das enge Bachbett. Im Flug klammerte er sich an einen Weidenast, hielt sich fest und kroch seitwärts davon. Die Steine, die er im Fallen gestreift hatte, sprangen polternd weiter abwärts.
    Er lief durch die Tajga, querfeldein, bis ihn die Kräfte verließen.
    Über der Waldlichtung stieg die Sonne auf, und die Männer, die sich in den Schobern verborgen hielten, konnten gut die Gestalten der Unifomierten erkennen – von allen Seiten der Lichtung.
    »Das ist wohl das Ende?«, sagte Iwaschtschenko und stieß Chatschaturjan mit dem Ellbogen an.
    »Wieso das Ende?«, sagte Aschot und zielte. Ein Gewehrschuß knallte, auf dem Pfad fiel ein Soldat hin.
    Sofort wurde von allen Seiten das Feuer auf die Schober eröffnet.
    Die Soldaten stürmten auf Kommando durch den Sumpf zu den Schobern, Schüsse krachten, Stöhnen war zu hören.
    Die Attacke wurde zurückgeschlagen. Einige Verwundete lagen zwischen den Erdhöckern im Sumpf.
    »Sanitäter, hinrobben«, verfügte irgendein Chef.
    Aus dem Krankenhaus hatte man vorsorglich den gefangenen Sanitäter Jaschka Kutschen mitgenommen, einen Bewohner des Westlichen Weißrußland. Ohne ein Wort kroch der Häftling Kutschen zu einem Verletzten und schwenkte die Sanitätertasche. Eine Kugel in die Schulter hielt Kutschen auf halbem Wege auf.
    Furchtlos sprang der Chef der Wachabteilung hervor – eben jener Abteilung, die die Flüchtigen entwaffnet hatten. Er schrie:
    »Hej, Iwaschtschenko, Soldatow, Pugatschow, ergebt euch, ihr seid umzingelt. Ihr habt keinen Ausweg.«
    »Komm dir die Waffen holen«, schrie Iwaschtschenko aus dem Schober.
    Und Bobyljow, der Chef der Wache, patschte durch den Sumpf auf die Schober zu.
    Auf der Hälfte des Pfads knallte Iwaschtschenkos Schuß – die Kugel traf Bobyljow direkt in die Stirn.
    »Bravo«, lobte Soldatow den Kameraden. »Der Chef ist ja darum so tapfer, weil ihm alles gleich ist: für unsere Flucht hätten sie ihn erschossen oder ins Lager gesteckt. Kommt, haltet euch!«
    Von überall wurde geschossen. Die mitgebrachten MGs ratterten.
    Soldatow spürte, wie es ihm beide Beine versengte, wie der Kopf des getöteten Iwaschtschenko an seine Schulter stieß.
    Der andere Schober schwieg. Ein Dutzend Leichen lagen im Sumpf.
    Soldatow schoß, bis ihm etwas auf den Kopf schlug, und er verlor das Bewußtsein.
    Nikolaj Sergejewitsch Braude, Chefchirurg des großen Krankenhauses, wurde auf telefonische Anordnung Generalmajor Artemjews, eines der vier Generäle an der Kolyma und Chef der Wache sämtlicher Kolyma-Lager, überraschend in die Siedlung Litschan gerufen, zusammen mit »zwei Feldschern, Verbandsmaterial und Gerät«, wie es im Telephonogramm hieß.
    Braude packte schnell, ohne viel herumzurätseln, und der Anderthalbtonner, der altgediente kleine Krankenhauslaster, setzte sich in die gewiesene Richtung in Bewegung. Auf der Chaussee wurde das Krankenhausfahrzeug ständig von mächtigen »Studebakers« überholt, beladen mit bewaffneten Soldaten. Es waren nur vierzig Kilometer zu fahren, aber wegen der zahlreichen Halte, wegen eines Fahrzeugstaus irgendwo vor ihnen und wegen ständiger Überprüfung der Papiere kam Braude erst nach drei Stunden ans Ziel.
    Generalmajor Artemjew erwartete den Chirurgen in der Wohnung des örtlichen Lagerchefs. Braude und Artemjew waren Kolyma-Veteranen, und das Schicksal hatte sie schon mehrfach zusammengeführt.
    »Was ist denn hier los, Krieg?«, fragte Braude den General, als sie sich begrüßt hatten.
    »Krieg oder nicht Krieg, aber in der ersten Schlacht gibt es achtundzwanzig Tote. Und die Verwundeten – Sie werden sehen.«
    Und während sich Braude am Waschbecken wusch, das bei der Tür hing, erzählte ihm der General von der Flucht.
    »Sie hätten ja«, sagte Braude und zündete sich eine Papirossa an, »Flugzeuge rufen können, nicht? Zwei, drei Geschwader, und bombardieren, bombardieren ... Oder gleich eine Atombombe.«
    »Sie spotten«, sagte der Generalmajor. »Aber ich warte ohne jeden Scherz auf einen Befehl. Und noch gut – wenn sie mich aus der

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