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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Operationssaal, »und ißt Preiselbeeren.«
    »Mit wem denn?«, in den Reihen wurde geflüstert.
    »Mit wem?«, rief jemand von den Freien.
    Aber Doktor Doktor nannte keine Namen.
    Der Blitz war eingeschlagen, aber ich verstand gar nichts. Der Oberfeldscher ist für die Verpflegung verantwortlich – der Krankenhaus-Chef hatte beschlossen, auf die einfachste Weise zuzuschlagen.
    Die Fruchtspeise wurde nachgewogen, und es fehlten zehn Gramm. Mit großer Mühe konnte ich nachweisen, daß sie mit einer kleinen Kelle geschöpft und auf einen großen Teller ausgegeben wird – unweigerlich verschwinden zehn Gramm, weil sie »am Boden kleben«.
    Der Blitz hatte mich gewarnt, auch wenn er ohne Donner war.
    Am nächsten Tag folgte der Donnerschlag, ohne Blitz.
    Einer der Stationsärzte hatte mich gebeten, für seinen Patienten – einen Sterbenden – einen Löffel von etwas Lek-kerem aufzuheben, und ich hatte es versprochen und den Verteiler eine halbe oder Viertelschüssel irgendeiner Suppe der Diätkost aufheben lassen. Das war nicht rechtmäßig, wurde aber immer und überall praktiziert, in jeder Abteilung. Zum Mittagessen stürmte ein ganzer Trupp hoher Chefs mit Doktor Doktor an der Spitze in die Abteilung.
    »Und für wen ist das?« Auf dem Ofen wurde die halbe Schüssel der Diätsuppe gewärmt.
    »Das hat Doktor Gussegow für seinen Patienten erbeten.«
    »Der Patient, den Doktor Gussegow betreut, bekommt keine Diätverpflegung.«
    »Doktor Gussegow herholen.«
    Doktor Gussegow, ein Häftling und noch dazu nach »58–1a«, Vaterlandsverrat, war bleich vor Angst, als er vor den hellen Augen der Leitung erschien. Er war erst kürzlich, nach vielen Jahren der Eingaben und Bitten, ins Krankenhaus geholt worden. Und jetzt eine unglückliche Anordnung.
    »Ich habe keine solche Weisung gegeben, Bürger Natschalnik.«
    »Das heißt Sie, Herr Oberfeldscher, lügen. Führen uns irre«, tobte Doktor Doktor. »Wir haben dich erwischt, gib es zu. Haben dich drangekriegt.«
    Doktor Gussegow tat mir leid, aber ich verstand ihn. Ich schwieg. Auch alle anderen Mitglieder der Kommission schwiegen – der Oberarzt, der Lagerchef. Nur Doktor Doktor wütete.
    »Zieh den Kittel aus und ins Lager. Allgemeine Arbeiten! Du wirst mir im Isolator verfaulen!«
    »Zu Befehl, Bürger Natschalnik.«
    Ich zog den Kittel aus und verwandelte mich sofort in einen gewöhnlichen Häftling, den man in den Rücken stieß, den man anschrie – ich hatte ziemlich lange nicht im Lager gelebt ...
    »Und wo ist die Baracke der Versorgung?«
    »Du kriegst nicht die Baracke der Versorgung. Sondern den Isolator!«
    »Es gibt noch keine Order.«
    »Setz ihn vorläufig ohne Order rein.«
    »Nein, ohne Order nehme ich ihn nicht. Der Lagerchef erlaubt das nicht.«
    »Der Krankenhaus-Chef steht wohl über dem Lagerchef.«
    »Ja, er steht über ihm, aber mein Chef ist nur der Lagerchef.«
    In der Versorgungsbaracke konnte ich nicht lange sitzen – die Order war schnell ausgeschrieben, und ich ging in den Lagerisolator, einen stinkenden Karzer, stinkend wie die Dutzende Karzer, in denen ich schon gesessen hatte.
    Ich legte mich auf die Pritsche und lag so bis zum nächsten Morgen. Am Morgen kam der Arbeitsanweiser. Wir kannten uns schon von früher.
    »Drei Tage haben sie dir gegeben mit Ausrücken zu allgemeinen Arbeiten. Geh raus, du bekommst Handschuhe und wirst in der Schubkarre Sand karren in der Baugrube für das neue Wachgebäude. Es war eine Komödie. Der Chef des Lagerpunkts hat erzählt. Doktor Doktor fordert Strafmine für immer ... Deine Verlegung ins Nummernlager .
    ›Aber was für Bagatellen‹, sagten alle anderen. ›Wenn du für so ein Vergehen ins Straf- oder Nummernlager schickst, dann mußt du ja jeden. Und wir verlieren einen ausgebildeten Feldscher.‹
    Die ganze Kommission wußte von Gussegows Ängstlichkeit, auch Doktor Doktor wußte davon, tobte aber nur noch mehr.
    ›Dann eben zwei Wochen allgemeine Arbeiten.‹
    ›Das geht auch nicht. Eine zu schwere Strafe. Eine Woche mit Ausrücken zur eigenen Arbeit im Krankenhaus‹, schlug der Bevollmächtigte Baklanow vor.
    ›Wo denken Sie hin? Ohne allgemeine Arbeiten, ohne Schubkarre ist das überhaupt keine Strafe. Wenn er bloß zum Übernachten in den Isolator geht, ist das alles nur pro forma.‹
    ›Na schön, einen Tag mit Ausrücken zu allgemeinen Arbeiten.‹
    ›Drei Tage.‹
    ›Gut.‹«
    Und so übernehme ich nach vielen Jahren wieder die Griffe der Schubkarre, die Maschine des

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