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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Sonderkollegiums – das Urteil ist da, zwei Griffe, ein Rad.
    Ich bin ein Schubkarrenveteran der Kolyma. In der Goldmine des Jahres achtunddreißig habe ich alle Feinheiten des Schubkarrenhandwerks gelernt. Ich weiß, wie man die Griffe drücken muß, damit die Kraft aus der Schulter kommt, ich weiß, wie man die leere Schubkarre zurückrollt – mit dem Rad voraus, die Griffe nach oben, damit das Blut abfließt. Ich weiß, wie man die Schubkarre mit einer Bewegung umkippt, wie man sie umdreht und auf den Steg stellt.
    Ich bin Professor des Schubkarrenwesens. Ich schob die Schubkarre gern, bewies meine Klasse. Ich baute gern Stege und legte zum Ausgleichen Steinchen unter. Tagwerke wurden hier nicht gegeben. Einfach Schubkarre, Strafe – und basta. Es gab keinerlei Erfassung dieser Karzerarbeit. Einige Monate lang hatte ich das riesige Gebäude des dreistöckigen Zentralkrankenhauses nicht verlassen, war ohne frische Luft ausgekommen – ich scherzte, im Bergwerk habe ich für zwanzig Jahre im voraus frische Luft geschöpft und gehe nicht ins Freie. Jetzt aber atme ich frische Luft und rufe mir das Schubkarrenhandwerk ins Gedächtnis. Zwei Nächte und drei Tage war ich bei dieser Arbeit. Am Abend des dritten Tages besuchte mich der Lagerchef. In seiner gesamten Lagerpraxis an der Kolyma hatte er noch nie ein solches Strafmaß für ein Vergehen gesehen, wie Doktor Doktor es gefordert hatte, und der Lagerchef versuchte, etwas zu begreifen.
    Er blieb am Steg stehen.
    »Guten Tag, Bürger Natschalnik.«
    »Heute endet deine
katorga
, du brauchst nicht mehr zurück in den Isolator.«
    »Danke, Bürger Natschalnik.«
    »Aber heute arbeite bis zum Schluß.«
    »Zu Befehl, Bürger Natschalnik.«
    Unmittelbar vor dem Zapfenstreich – vor dem Schlag ans Gleisstück – erschien Doktor Doktor. Bei ihm waren seine beiden Adjutanten, der Krankenhauskommandant Postel und Grischa Kobeko, der Zahntechniker im Krankenhaus.
    Postel, ehemaliger NKWD-Mitarbeiter, ein Syphilitiker, der zwei oder drei Schwestern mit Syphilis angesteckt hatte, die dann in die
»wensona«
mußten, in die Venerologische Frauenzone in einer Waldaußenstelle, wo nur Syphilitikerinnen leben. Der schöne Grischa Kobeko war der Krankenhausdenunziant, ein Zuträger und Anstifter von Verfahren – eine würdige Gesellschaft für Doktor Doktor.
    Der Krankenhaus-Chef trat an die Baugrube, und die drei Schubkarrenfahrer ließen die Arbeit stehen, richteten sich auf und gingen in Position »Stillgestanden«.
    Doktor Doktor betrachtete mich mit größter Genugtuung.
    »Da bist du ... Das ist genau die richtige Arbeit für dich. Verstanden? Das ist für dich genau die richtige Arbeit.«
    Die Zeugen hatte Doktor Doktor wohl mitgebracht, um irgendetwas zu provozieren, wenigstens einen kleinen Verstoß. Die Zeiten haben sich geändert, sie haben sich geändert. Das versteht auch Doktor Doktor, und ich verstehe das auch. Chef und Feldscher – das ist nicht dasselbe wie Chef und einfacher Arbeiter. Ganz und gar nicht dasselbe.
    »Ich kann jede Arbeit machen, Bürger Natschalnik. Ich könnte sogar Krankenhaus-Chef sein.«
    Doktor Doktor stieß einen schmutzigen Fluch aus und entfernte sich Richtung Freiensiedlung. Der Schlag ans Gleisstück – und ich ging nicht ins Lager, nicht in die Zone, wie die beiden letzten Tage, sondern ins Krankenhaus.
    »Grischka, Wasser!«, rief ich. »Und anständig zu essen nach der Wanne.«
    Doch ich kannte Doktor Doktor schlecht. Kommissionen und Kontrollen brachen fast täglich über die Abteilung herein.
    Und in Erwartung der Ankunft der obersten Leitung verlor Doktor Doktor den Verstand.
    Doktor Doktor hätte mich noch gekriegt, doch die anderen freien Chefs zerstörten seine Karriere, stellten ihm ein Bein, verdrängten ihn von seinem guten Posten.
    Überraschend wurde Doktor Doktor zum Urlaub aufs Festland geschickt, obwohl er niemals um Beurlaubung gebeten hatte. An seiner Stelle kam ein anderer Chef.
    Die Abschiedsvisite. Der neue Chef ist schwerfällig und träge, er atmet schwer. Die chirurgische Abteilung liegt im zweiten Stockwerk – man ist schnell gegangen, außer Atem. Bei meinem Anblick konnte sich Doktor Doktor ein Vergnügen nicht versagen.
    »Und das hier ist die Konterrevolution, von der ich dir unten erzählt habe«, sagte Doktor Doktor laut und zeigte mit dem Finger auf mich. »Ich war immer kurz davor, ihn zu entlassen, bin nicht dazu gekommen. Ich rate dir, das sofort, auf der Stelle zu tun. Die Krankenhausluft wird

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