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Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Titel: Linksaufsteher: Ein Montagsroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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deutlich bis in den letzten Winkel der provisorischen Umkleiden gehört, aber niemals auf der Bühne. Frau Brillmanns Zischen reichte immer exakt bis zu den Kulissen und stoppte dort. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das gemacht hat.  
    »Auftritt Gretchen!«  
    Claudia Köhnel lächelt mir kurz zu und wendet sich zum Bühneneingang. Warum hat sie keine Zöpfe? Gretchen hat doch immer Zöpfe, weil … Ja, warum eigentlich? Zöpfe, Zöpfe, warum denke ich immer über Zöpfe nach? Jetzt höre ich eine andere Stimme.  
    »Viel besser ohne Zöpfe. Warum will da einfach keiner drüber nachdenken?«  
    Ja, doch, das ergibt alles Sinn. Ich weiß nur nicht warum. Ich kriege die Puzzleteile nicht zusammen. Wieso nur? Ich habe doch alles durchprobiert. Das macht mich wahnsinnig!  
    …  
    5:30 Uhr. Donnerstag. Ich bin aufgewacht.  
    …  
    Ich habe geträumt. Ich habe an einem Donnerstag geträumt! Zum ersten Mal seit mehreren Jahren! Ich drehe mich auf den Rücken und reibe mir die Augen. Woher kommt dieser Höllendurst? Viel besser ohne Zöpfe. Warum will da einfach keiner drüber nachdenken? Claudia Köhnel. Gretchen. Zöpfe. Keine Zöpfe.  
    Ich schlurfe im Dunkeln in die Küche, nehme mir ein Glas und mache es am Wasserhahn voll. Claudia Köhnel. Gretchen. Zöpfe. Keine Zöpfe. Ich trinke das Glas in einem Zug aus. In meinem Kopf legt DJ Da-war-doch-Irgendwas weiter pausenlos Platten auf … Noch mehr Wasser. Ich schlurfe ins Wohnzimmer, setze mich in meinen Ohrensessel und ziehe die Knie an. Immer noch Schmerzen im Schritt. Ich gehe heute mal lieber zum Arzt. Oder gleich ins Krankenhaus. Wieso Krankenhaus? Da muss man doch stundenlang warten. Wie komme ich auf Krankenhaus? Noch ein Glas Wasser holen …  
    Krankenhaus … Krankenhaus. Claudia Köhnel. Gretchen. Zöpfe. Keine Zöpfe, Krankenhaus … Claudia Köhnel, Gretchen … Claudia Köhnel sollte doch am Anfang gar nicht das Gretchen spielen …  
    Es ist, als hätte ich die ganze Zeit vor einem Malen-nach-Zahlen-Bild gesessen und als würde jetzt eine letzte lange Linie von einem Moment auf den anderen endlich dem Chaos auf dem Blatt einen Sinn geben.  
    Claudia Köhnel sollte gar nicht das Gretchen spielen … sondern das Lieschen.  
    Während die dicke Wolkenschicht in meinem Kopf aufreißt, höre ich kaum noch, wie neben mir mein Glas auf den Holzdielen aufschlägt und davonrollt.  
    Wir hatten schon angefangen zu proben. Claudia Köhnel spielte das Lieschen. Und das Gretchen spielte ein Mädchen aus der Jahrgangsstufe unter uns. Ein großes Talent, dieses Mädchen. Und dann machten wir ganz früh die erste Kostümprobe, damit die Handarbeitslehrerin mit ihren Schülerinnen rechtzeitig alles fertigkriegt. Und dem Mädchen, das das Gretchen spielen sollte, wurden Zöpfe geflochten. Und als die Zöpfe fertig waren, hat das Mädchen gefragt, warum das Gretchen eigentlich unbedingt Zöpfe haben muss. Schließlich sei Gretchen kein verzagtes Mauerblümchen, sondern eine starke, selbstbewusste Frau, die nur einfach keine Chance gegen die vereinten Kräfte von Mephisto und Faust hat, oder so ähnlich. Ich stand irgendwo im Raum und bekam nur die Hälfte der Diskussion mit, aber es dauerte sehr lange, und weder Frau Brillmann noch der zweite Leiter der Theatergruppe, Herr Dr. Plössinger, noch die Handarbeitslehrerin hatten eine vernünftige Antwort darauf, warum das Gretchen bei Faust immer diese doofen Zöpfe tragen muss.  
    Schließlich beschlossen Frau Brillmann und Herr Dr. Plössinger, dass das Gretchen tatsächlich eine andere Frisur haben sollte, und die Handarbeitslehrerin war sehr ärgerlich darüber. Und wir probten weiter. Klaus Krummbeil aus der Parallelklasse den Faust, ich den Mephisto, und das Mädchen aus der Klasse unter uns das Gretchen. Wir paukten bis zum Erbrechen die endlosen Texte und Frau Brillmann ließ uns ganze Nachmittage lang immer wieder die gleichen Passagen sprechen, bis sie richtig saßen. Und eines Tages sagte sie, dass sie die Vorstellung von einem Gretchen ohne Zöpfe auf ganz neue Ideen gebracht habe. Das Gretchen musste nun mit einem anderen Ausdruck spielen. Faust und Mephisto auch.  
    Und ich wusste, dass Gretchen ein bisschen in mich verknallt war. Das ist normal bei Faust-Schulaufführungen. Die meisten Gretchen verknallen sich in Mephisto, weil der Typ einfach eine coole Sau ist. Und ich mochte sie auch. Ihre kleinen Lachgrübchen und ihre Eichhörnchenknopfaugen, ihre langen braunen Haare ohne

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