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Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Linksaufsteher: Ein Montagsroman

Titel: Linksaufsteher: Ein Montagsroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Sachau
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Zöpfe, aber es war gerade die Phase, in der wir alle mehr hinter Mädchen mit Erfahrung her waren.  
    Und dann bekam Gretchen mitten in der Probenphase eine seltsame Krankheit namens paronimische Dystrophie. Sie musste ins Krankenhaus. Viele Monate. Und Claudia Köhnel ist für sie als Gretchen eingesprungen. Das Ex-Gretchen konnte nicht einmal zu den Aufführungen kommen, weil sie das Krankenhaus nicht verlassen durfte. Und ich habe das Ex-Gretchen nicht im Krankenhaus besucht. Weder vor der Aufführung noch nach der Aufführung. Nicht ein einziges Mal. Ich habe einfach weiter meinen Text gelernt, geprobt und mit Claudia Köhnel angebandelt, von der alle Jungs aus meiner Klasse wussten, dass sie in der Einliegerwohnung im Haus ihrer Eltern wohnte und dass Jungs bei ihr übernachten durften. Die Proben liefen gut, die Premiere war ein Riesenerfolg, und zwei Tage später hatte ich in Claudia Köhnels Einliegerwohnung den ersten Orgasmus, bei dem ich wirklich ein Kondom brauchte.  
    Als das Ex-Gretchen dann viele Monate später endlich wieder zur Schule konnte, habe ich das gar nicht mitbekommen. Ich steckte schon mitten im Abitur. Ein oder zwei Mal haben wir uns noch von Weitem zugewinkt, aber das war es.  
    Wie konnte ich nur? Sie war meine Schulschauspielerkollegin, ich habe sie gemocht. Aber ich war mit 17 offensichtlich ein emotionaler Krüppel, der nicht weiter fühlen konnte als von sich zum nächsten warmen Bett.  
    Ich starre aus dem Fenster auf die spärlich und kalt beleuchtete Straße. In mir zieht sich alles zusammen. Wie traurig muss sie gewesen sein, dass sie nicht mitspielen konnte! Jemand anderes hatte ihre Rolle übernommen. Das Gretchen ohne Zöpfe, das Gretchen, das sie erfunden hatte. Und das Krankenhaus war keine Viertelstunde mit dem Fahrrad entfernt. Und doch zu weit für jemanden, der nicht weiter denken kann als von sich zu dem, was direkt vor seinen Augen ist.  
    Ein Auto kommt lautlos aus einer Tiefgaragenausfahrt. Die Lichter schnuffeln kurz an der Straße, dann ist es wieder weg.  
    Ich kann es nicht fassen. Die schlimmste Untat, die ich in meinem Leben begangen habe. Und ich begreife es erst 15 Jahre danach. Und das Mädchen, das das Gretchen nicht spielen konnte, weil es im Krankenhaus lag, dieses Mädchen hieß …  
    ***  
    »Lena Ameling.«  
    Die Frau mit dem iKoffer steht vor mir und starrt mich an. Ich war zeitig im Coffee & Bytes. Als sie hereinkam, bin ich sofort aufgesprungen und ihr entgegengelaufen. Mein fein ausgearbeiteter Plan war natürlich seit heute Morgen reif für den Müll. Der neue war viel einfacher. Ich hatte vor, ihr einfach nur in die Augen zu sehen und »Lena Ameling« zu sagen. Und das habe ich soeben ohne jeden Zweifel perfekt in die Tat umgesetzt.  
    Lena starrt mich weiter an. Man kann fast hören, wie ihr Gehirn hinter ihrer schönen glatten Stirn sucht und sucht, bis es irgendwann erkennt, dass es keinen Gesichtsausdruck parat hat, der zu dieser Situation passt.  
    Um uns herum tobt ruderfroschs Geburtstagsparty. Es ist zwar noch recht früh am Tag, aber trotzdem wird kistenweise Sekt getrunken. Irgendeine Getränkekette, deren Website er mal vor einem Hackerangriff gerettet hat, sponsert die Party. Zu mir dringt der ganze Lärm aber kaum durch. Zu ihr? Ich weiß nicht. Ich …  
    »Oliver Krachowitzer.«  
    »Hmja, genau, nämlich.«  
    Meine Arme machen lächerliche Bewegungen. Sie setzen immer wieder zu irgendwas an und brechen sofort wieder ab. Mal will ich ihr die Hand geben, mal sie umarmen, mal herumgestikulieren. Schließlich sinken sie einfach herab und baumeln herum, in der vagen Hoffnung, so am wenigsten verkehrt zu machen.  
    »Schön, dass du es am Ende doch noch gemerkt hast.«  
    Oh, ihr Blick sagt alles. Sie hat mich schon bei der ersten Begegnung erkannt. Nur ich sie nicht. Als hätte mein Verbrechen von damals noch ein Sahnehäubchen gebraucht.  
    »Lena, du kannst dir gar nicht vorstellen, was mit mir in den letzten Wochen los war. Seit wir uns, hm, getroffen haben, ist alles anders. Ich denke anders, ich träume anders, ich erlebe lauter komische Sachen, ich … Also, jedenfalls, was ich sagen will, das war alles nur, weil ich dich irgendwie unbewusst, durch die Hintertür und irgendwie auf der Metaebene … na ja, also auf jeden Fall irgendwie auch gleich erkannt habe. Es brauchte sozusagen nur ein bisschen Zeit, bis es sich … durchgearbeitet hat.«  
    »Durchgearbeitet hat. So.«  
    Meine Arme fangen jetzt

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