Linna singt
ist noch genug übrig.«
Zweifelnd äuge ich an mir hinunter. Ich trage einen ausgeleierten Männerpyjama, an dessen zerfranster Leiste zwei Knöpfe fehlen und der mir drei Nummern zu groß ist. Die Knöpfe habe ich abgerissen, weil sie mich beim Liegen stören. Ich schlafe ja sowieso immer allein. Es ist egal, was ich nachts anhabe. Doch Falk hat recht, selbst in diesem XXL-Gewand zeichnet sich eine zweifelsfrei weibliche Figur ab, wenn auch durchtrainiert und ohne übermäßig ausladende Rundungen. Trotzdem unverwechselbar Frau. Ganz anders als früher in der Unterstufe, als ich weder Busen noch einen runden Po hatte und ständig mit einem Jungen verwechselt wurde.
»Meine Haare haben mir so viel bedeutet.« Unwillkürlich fasse ich an meinen Nacken und greife ins Leere. Ein scheußliches Gefühl. Ich werde ihre sanften, kühlen Berührungen auf meiner nackten Haut vermissen.
Die Belustigung in Falks Augen weicht einem nachdenklichen Ernst. Er hat seine Haare noch, denke ich neidvoll. Ein paar gelockte Strähnen sind aus dem Gummi gerutscht und verleihen seinem Anblick etwas dezent Verwegenes. Es gefällt mir viel zu gut, trotz Skiunterwäsche.
»Was hast du vorhin gemeint? Als du sagtest, du hast um sie kämpfen müssen?« Falk setzt sich wieder aufs Bett, die Beine lang ausgestreckt, doch er bittet mich nicht, ihm zu folgen. Also bleibe ich am Schrank stehen. »Warst du krank?«
Krank? Nein, es hatte mit ihr zu tun. Nur mit ihr. Alles hat irgendwie mit ihr zu tun. Sie ist überall.
»Meine Mutter … Sie wollte nicht, dass ich sie wachsen lasse. Ich hab das nicht kapiert und dachte jedes Mal, sie meinte es ernst, wenn sie sagte, wir müssten wieder zum Friseur, das Kurze würde mir doch so gut stehen, obwohl ich es selbst schrecklich fand. Aber ich dachte, sie hat mehr Ahnung als ich und dass ich das nur nicht erkenne. Dabei hatte ich heimlich immer davon geträumt, lange Haare zu haben, seitdem ich ein kleines Kind war, das war mein großer Traum und mit fünfzehn hab ich beschlossen, mich den Friseurbesuchen zu verweigern, und … und hab gewonnen.«
Falks Gesichtsausdruck ist mit jedem Satz skeptischer geworden. »Warum wollte sie das nicht? Dass du lange Haare hast?«
»Woher soll ich das wissen? Vielleicht weil ich dann aussah wie ein Mädchen und die Jungs das ebenfalls erkennen konnten? Weil man mir mit langen Haaren deutlicher anmerkte, woher ich komme? Woher meine Großmutter kam«, verbessere ich mich.
»Und das ist?«, fragt Falk, immer noch skeptisch, aber auch neugierig. Dabei stellt er Fragen, auf die ich selbst nie eine passende Antwort gefunden habe. Ich weiß nur, dass meine Mutter mich lieber hässlich haben wollte als hübsch. Es genügt, meine früheren Fotoalben anzusehen, um das herauszufinden. Sie hat mich regelrecht verkleidet. Und ich weiß, dass sie das Exotische in meinem Gesicht nicht mag. Ich spüre das, wenn sie mich ansieht.
»Mongolei …« Ich spreche das Wort aus wie eine Zauberformel, aber das ist es für mich auch. Vielleicht sogar ein Versprechen. »Meine Großmutter kam aus der Mongolei.« Ich muss lächeln, wenn ich an sie denke. »Sie war Nomadin, hat in der Steppe gelebt, so wie man sich das vorstellt … Mit Yaks und Pferden und Jurte statt einem Haus. Und widerlichem Buttertee.« Ich spüre, wie mein Lächeln sich vertieft, und auch Falk lächelt. »Papa hat mir mal einen gekocht, ich hab gedacht, ich muss ihn wieder ausspucken. Schmeckt absolut ätzend. Aber da drüben braucht man ihn, sonst kriegt man keine Wärme in den Körper.«
»Dein Vater ist auch Mongole?«
»Halber. Mein Opa war Ethnologe und hat die Nomaden erforscht und … sich verliebt. In meine Großmutter. Er hat jahrelang mit ihr dort gelebt, wie die Einheimischen, aber dann bekam er Sehnsucht nach Deutschland und ist wieder nach Hause gereist, zusammen mit ihr.« Mein Lächeln verschwindet und meine Lippen werden hart. »Sie hat es nicht ausgehalten. Nach fünf Jahren ist sie zurück in die Mongolei gegangen. Sie war krank vor Heimweh. Sie … sie hatte lange Haare. Immer. Wie ich. Vorher.« Ich schlucke die aufkommenden Tränen hinunter. Es ist nicht mehr zu ändern, meine Haare sind fort, und ich sollte mich nicht in gefühlsduseligen Familiengeschichten verlieren. Deshalb bin ich nicht hier.
»Ich verstehe es immer noch nicht. Warum sollte deine Mutter deine Gene nicht mögen? Sie hat doch einen Mann mit diesen Genen geheiratet.«
»Weil er sie verlassen hat, als … als …« Ich kann
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