Linna singt
nicht weitersprechen, es geht nicht.
»Wollte er auch zurück in die Mongolei?«
Ich schüttele den Kopf und schlucke noch einmal, um das Beben in meiner Stimme zu bezwingen. »Nein. Einfach nur weg. Weg von ihr. Sie denkt, es hat damit zu tun, dass er … dass er irgendwann seine Mutter in mir gesehen hat. In meinen Augen und in meinem Gesicht.«
Dass ich schuld daran bin. Ich bin schuld daran, dass er seine Koffer gepackt und sie zurückgelassen hat, allein mit einem schwer erziehbaren Mädchen, das alles anders machte, als sie sich das vorstellte.
»Ihm merkt man seine Herkunft kaum an, er hat dunkelblaue Augen und braune Haare, aber bei mir ist sie voll durchgebrochen. Sie glaubt, dass ich ihn jeden Tag daran erinnert habe, was ihm entgeht.« Aber das war nicht der Grund. Das kann nicht der Grund gewesen sein, ich will das nicht glauben. Selbst wenn das der Grund gewesen ist – ich kann nichts dafür, wie ich aussehe! Direkt beschuldigt hat sie mich auch nie deswegen. Aber sie konnte mich irgendwann nicht mehr ansehen, ohne daran zu denken. Ohne an ihn zu denken.
»Was macht er denn jetzt, dein Vater? Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Er ist Maschinenbauer und viel unterwegs, in der ganzen Welt. Ich hab keine Ahnung. Wenn er in der Nähe ist, ruft er mich an, damit wir uns auf einen Kaffee treffen.« Und ich lüge ihm pausenlos vor, dass es Mama und mir gut geht und wir zurechtkommen. Kein Wort von blutenden Kopfwunden und nächtlichen Blaulichtfahrten in die Psychiatrie. Ich tue das nicht ihr zuliebe, sondern ihm zuliebe. Wenigstens einer von uns beiden soll frei sein dürfen. »Er ist stolz auf mich, weil ich boxe.« Eine heiße Träne sickert meine linke Wange hinunter. Ich höre, wie sie mit einem sanften, kaum wahrnehmbaren Geräusch auf den Holzboden tropft. »Er findet das gut. Er … er hat sich auch Pferde gekauft und reitet und …«
Genug jetzt, Linna, es reicht. Ja, er möchte, dass ich eines Tages ein paar Wochen nur mit ihm verbringe und wir gemeinsam in die Mongolei reisen, damit ich meine Wurzeln kennenlerne, aber das kann ich nicht tun, das würde sie nicht akzeptieren und erst recht nicht verwinden und ich selbst wahrscheinlich auch nicht. Er ist mein Vater, er ist fort und ich kann es ihm nicht verdenken.
»Egal«, schließe ich gefasst und wische mir eine letzte Träne von der Wange. Diese Tränen sind sinnlos, sie ändern nichts, und eines habe ich in der Vergangenheit zur Genüge gelernt: Wenn man weint, erhöht man seine Glaubwürdigkeit nicht, nein, man senkt sie nur. »Können wir uns darauf einigen, dass ich es war?« Ich deute auf meine verbliebenen Haare.
Falk nickt bereitwillig. »Und du glaubst wirklich, dass Maggie es getan hat?« Seine hellen Augen sind voller Zweifel.
»Wer soll es denn sonst gewesen sein? Maggie war neidisch auf meine langen Haare. Schon immer.« Oje, das hört sich reichlich albern an. Aus Neid die Haare abschneiden. Aber Falk weiß nicht, wie sie mich heute Nacht angesehen hat. So voller Angst und Hass. Soll ich ihm sagen, dass ich bei Jules war? Aber was, wenn er dann genau das Gleiche denkt wie Maggie – dass ich Jules anmachen wollte?
»Woher willst du das wissen? Vielleicht bildest du dir das nur ein.«
»Ich weiß es eben.« Ich weiß es, weil ich in ihrem Tagebuch gelesen habe. Ja, das macht man nicht, schon klar, aber man lässt es auch nicht mit den aufgeschlagenen Seiten nach oben in seinem Jugendherbergszimmer liegen. Es war ein gefundenes Fressen, nicht nur für mich. Ich war sogar diejenige, die dem Spiel schließlich ein Ende gesetzt und es den anderen aus ihren gierigen Fingern gerissen hat. Was wir darin lesen mussten, war peinlich genug.
Sie hatte es schwarz auf weiß geschrieben, mehrfach. Sie war nicht nur neidisch auf meine Haare, sondern auch auf meine Figur, meine Sportlichkeit, mein musikalisches Können – aber vor allem auf meine Haare. Und dazu hielt sie eine krankhafte Angst gefangen, dass diese Attribute Jules in meine Arme treiben würden. Doch jetzt, wo Falk mich so zweifelnd anschaut, kann ich mir plötzlich selbst nicht mehr vorstellen, dass sie dazu fähig ist, einen solchen Akt zu planen und auszuführen. Einer Schlafenden die Haare abschneiden, das grenzt an Körperverletzung.
»Sie ist die Einzige mit einem Motiv«, sage ich trotzdem.
»Neid? Ist das ein Motiv? Ja, ehrlich? Sorry, ich trau es ihr nicht zu.«
»Maggie hat Angst, ich könne Jules anbaggern. Panische Angst. Sie wollte mich auch davon abhalten,
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