Linna singt
nicht mehr alt heute Abend. Geh ruhig schon schlafen, ich mach den Abwasch.«
Sie steht schweigend auf und stellt sich an den Herd. Okay. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Sie will sehen und hören, dass ich in mein Zimmer gehe. Ohne zu murren, tunkt sie ihre aufgekratzten Finger in das heiße Spülwasser und reicht mir die Teller und Schüsseln, damit ich sie abtrockne. Auch danach lässt Maggie mich nicht aus den Augen, sondern bleibt als stiller Wachtposten dicht hinter mir, während ich die letzten Reste Brennholz in den Ofen schiebe.
»Gute Nacht.«
»Nacht, Maggie.« Sie wartet, bis ich in meinem Zimmer bin; erst dann schließt sie ihre Tür. Ich spiele ihr alle Geräusche vor, die sie hören will: das Ablegen meiner Klamotten auf dem Ofenrohr, Zähneputzen, das klackende Löschen des Gaslichts, der zufriedene Seufzer, mit dem man abends in die Federn sinkt. Dann lasse ich eine halbe Stunde verstreichen, tapse auf Zehenspitzen in die Stube, kralle mir den Laptop und schleiche zurück in mein Zimmer.
Er fängt sofort an zu summen, als ich den Startknopf drücke; Jules hat ihn im Stand-by gelassen, sodass er keine Zeit zum Hochfahren verschwendet, sondern mich umgehend mit Jules’ geöffneter Facebook-Startseite begrüßt. Er hat seinen Laptop also nicht mit einem Passwort gesichert. Sehr gut. Doch um Facebook und Falk will ich mich später kümmern. Erst einmal sehe ich die Ordner durch, die Jules auf dem Desktop abgespeichert hat, nur ganz schnell; in der Zwischenzeit schafft es das Ding vielleicht, sich ins Internet einzuloggen. Immerhin ist Jules das hier oben schon gelungen.
Mein Herz schlägt schneller, als ich in der rechten oberen Ecke einen Ordner namens »Linna« entdecke. Linna? Er hat einen eigenen Ordner mit Dateien für mich angelegt? Oder war er nur zu faul, ihn korrekt mit »Linna singt« zu betiteln?
Ich nehme meine Finger vom Touchpad. Plötzlich scheue ich mich, diesen Ordner zu öffnen. Was ist, wenn er mir Hinweise darauf gibt, dass Falk mit seiner Vermutung, Jules könne auf mich stehen, recht hat? Es würde einiges erklären, auch seine Aggression bei unserem Spiel – er könnte so heftig reagiert haben, weil es ihm gefallen hat, was ich getan habe, und nicht, weil es ihm zuwider war, obwohl das noch nicht begründet, warum Maggie nicht freudiger auf die Ohrfeige reagiert hat. Sie wirkte fast resigniert, als habe sie etwas gesehen, was sie klammheimlich befürchtet hatte. Und warum hat Jules dann gesagt, dass er sich nicht entschuldigen kann, weil er es dann erklären müsste, und das ginge nicht? Außerdem war da seine undurchsichtige Reaktion, als ich aus Falks Zimmer kam. Er wirkte nicht nur missbilligend, sondern auch, als würde er mühsam um Haltung ringen. Äußerlich war er ruhig, aber es tobte in ihm.
Stimmt es, was Falk angedeutet hat? Ist Jules ein Psycho, völlig unberechenbar in dem, was er als Nächstes tut, und auch zu Gewalttaten imstande? War das nicht Gewalt, was er mir angetan hat? Er hatte sich nicht unter Kontrolle. Aber kann das denn sein – dass ich jahrelang mit einem Psychopathen befreundet war und ihm zutiefst vertraut habe? Ja, es kann. Menschen verändern sich mit der Zeit. Vielleicht war es damals schon in ihm angelegt und treibt jetzt erst seine vollen Blüten. Jeder der anderen hat sich verändert, Maggie, Simon, Falk. Und Jules. Sein Vertretergebaren, seine Ehe, sein Job – das kann alles nur eine Maske sein. So etwas kennt man doch aus Filmen, biedere Karrieretypen, hinter deren schnöder Fassade sich Abgründe auftun. Und wenn sie in die Enge gedrängt werden oder ihre Triebe Oberhand gewinnen, ticken sie aus. Ja, wenn Jules ein Psycho ist, passt auch die Botschaft an der Wand in sein Repertoire. Psychos lieben und hassen ihre Opfer. Bin ich das etwa – Jules’ Opfer? Und finde ich auf seinem Laptop nun irgendwelche schmutzigen Bilder von mir, die er heimlich bei sich zu Hause geknipst hat?
Tu mir das nicht an, Jules. Alles, aber nicht das. Mit schwitzenden Händen ziehe ich den Laptop näher und klicke den Ordner an. Flüsternd öffnet er sich. Keine Bilder. Sondern Videos. Linna 2/2008 I, Linna 2/2008 II, Linna 2/2008 III, Chor, Orchester. Das ist alles. Fünf Filme. Chor und Orchester hören sich nicht nach schlüpfrigem Material an – ach, wie soll das schon gehen, schlüpfrige Filme von mir zu machen, ich habe mich in Jules’ Gegenwart nie schlüpfrig benommen. Allerdings sind für einen echten Psycho mit lebhafter Fantasie schon
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