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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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einem an manchen Stellen bis zu den Oberschenkeln reicht, vor allem dann, wenn man gleichzeitig darauf bedacht ist, sich langsam und vorsichtig fortzubewegen. Doch unsere Arme sind noch einigermaßen ausgeruht und so stoßen Falk und ich schon nach wenigen Minuten gleichzeitig auf ein Stück dunkelgrüne, eisverkrustete Plastikplane.
    »Weiter«, knurrt Falk. Ohne zu murren, gehorchen Simon und ich, Simon mit einem nervigen Dauerschniefen, ich mit tausend unausgesprochenen Flüchen auf der Zunge, die abwechselnd dem Schnee, Jules und Luna gelten, die wie eine Verrückte mit ihren verklumpten Pfoten an diesem eckigen Ding scharrt, obwohl auch sie alle Mühe hat, die Eisschicht zu durchbrechen. Sie umgibt es wie ein Panzer. Doch dann schafft Falk es, einen Zipfel der dunkelgrünen Plane zu fassen und wegzuziehen. Mit einem hellen Klirren zerspringt das Eis und darunter hervor kommt – Holz. Holz! Ich hätte nie gedacht, dass ich mich so über den Anblick von Holz freuen könnte, aber ich strahle wie ein kleines Kind an Weihnachten. Niemand von uns lacht oder sagt etwas, das wäre zu kräftezehrend; wir stehen nur schwer atmend da und genießen das wundervolle Gefühl, für unsere harte Arbeit belohnt zu werden, obwohl der richtig anstrengende Teil erst noch kommt: Wir müssen die Holzscheite zur Hütte tragen und auf dem Axtplatz zu handlichem Brennholz verarbeiten, erneut bei Minustemperaturen um die fünfzehn Grad. Es wird noch mindestens eine Stunde dauern, bis wir den ersten Ofen befeuern können.
    Falk zieht ein paar der Scheite unter der Plane hervor, drückt sie Simon und mir in die Arme und weist hinunter zur Hütte.
    »Geht schon mal vor und zerkleinert sie. Die Axt hängt im Anbau an der Wand. Ich bringe den nächsten Packen und hole dann gleich wieder neues. Wir müssen das gute Wetter nutzen.«
    Gutes Wetter ist so eine Sache, denke ich miesepetrig und schaue in die dunklen, schweren Wolken, die uns die Sicht ins Tal versperren und immer näher rücken. Auch über uns ist es düster geworden, obwohl noch ein paar Stunden bis zum Sonnenuntergang verstreichen werden. Es sieht nach neuem Schnee aus und an der Kälte hat sich auch nichts geändert. Ich denke nicht, dass es einen Sturm geben wird wie nach unserer Ankunft, aber die Sonne habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen und langsam schlägt mir dieser Umstand auf meine ohnehin nicht prächtige Stimmung. Doch für heute soll ein prasselndes Feuer im Ofen als Ersatz für das echte Licht genügen.
    »Komm«, fordere ich Simon auf. »Versuch, in unsere Fußstapfen von vorhin zu treten, dann ist es leichter.« Er weiß das sicherlich selbst, aber es tut mir gut, ein wenig zu reden in dieser Dauerstille des Schnees, die sich wie Wasser in meinen Ohren anfühlt. Simon spart sich eine Antwort; vermutlich schmerzt ihn das Sprechen. So gehen wir stumm hintereinanderher zur Hütte hinab und werden mit jedem Schritt langsamer, weil die Last auf unseren Armen uns bremst.
    Sobald wir den Anbau erreicht haben, lassen wir das Holz auf den freigefegten Boden unter dem Dach fallen und keuchen eine Weile im Takt vor uns hin, bis Simon nicht mehr husten muss und das Stechen in meinen Lungen milder wird. Ich laufe in den Anbau, der mir so warm und gemütlich erscheint, dass ich versucht bin, mich auf den Boden zu kuscheln und einzuschlafen, nehme die schwere Axt von der Wand und trage sie nach draußen. Eine gleißend helle Sekunde lang kommt mir Shining in den Sinn, einer meiner Lieblingsfilme, doch ob ich ihn in Zukunft noch so entspannt anschauen kann wie bisher, bezweifle ich. Ich war immer fasziniert von den Kamerafahrten, dem genialen Setting und vor allem von der schauspielerischen Leistung Nicholsons; der Horror war für mich nebensächlich und nichts, was mich aufregen konnte. Doch jetzt muss ich unweigerlich an Jules denken, wenn ich Nicholson vor mir sehe, wie er den immer gleichen Satz in seine Schreibmaschine hämmert, weil der Wahnsinn schon von ihm Besitz ergriffen hat … »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.« Dazu seine dauernervöse Frau mit ihrem kleinen, autistisch wirkenden Sohn, völlig verloren in diesem gigantisch großen, einsamen Hotel und ihrem Mann hilflos ausgeliefert …
    Ich sollte mir merken, wo die Axt hängt. Für alle Fälle.
    »Lass mich das machen, Linna. Die ist zu schwer für dich.« Ich überlasse sie Simon, obwohl ich der Meinung bin, dass sie ganz und gar nicht zu schwer für mich ist und er sich lieber

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