Linna singt
wollen.« Falk redet leise und in einem unaufgeregten Tonfall, ohne dass dies seinen Worten ihre Vernichtungskraft nehmen könnte. Trotzdem spüre ich, dass er nichts von dem, was er sagt, als einen Angriff auf mich meint. »Auf der Bühne war das anders. Da warst du echt. Wenn du auf der Bühne von Gefühlen gesungen hast … wow …« Falk schüttelt sich kaum merklich und ich kann dabei zusehen, wie eine feine Gänsehaut über seine bloßen Unterarme kriecht. »Man hat dir jedes Wort geglaubt, du warst nie affektiert oder aufgesetzt, sondern stark und zart zugleich und vor allem … hast du gelebt … mit allen Sinnen …« Seine Augen wirken wie blau funkelnde Kaleidoskope hinter einer dünnen Nebelwand, als er zu mir aufsieht. Nah und doch so fern. »Du musst singen, Linna. Sing und sie werden dir vielleicht wieder glauben.«
Ich schüttele den Kopf. Ich habe schon einmal um mein Leben gesungen und es hat nichts gebracht, gar nichts.
»Ich bin beides, Falk. Das Eiskalte und das Zarte. Ich brauche das Eiskalte, um nicht an dem Zarten kaputtzugehen.« Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe. Ich mag solche Sätze nicht, sie machen mich hilflos. Und sie führen zu nichts.
Noch einmal schüttele ich den Kopf, dieses Mal zu mir selbst, und versuche mich daran zu erinnern, weshalb Falk überhaupt zu mir gekommen ist. Wir müssen über etwas halbwegs Normales reden, dringend, irgendetwas, wofür ich meinen Kopf benutzen kann und wobei mein Herz schweigen darf. »Was wolltest du mich vorhin eigentlich fragen? Wie es aussieht, werden wir nicht heimfahren, oder? Also, was wolltest du heute Nacht tun?«
Seine Augen klären sich und er streicht sich über die Stirn, als wolle er das zerstreuen, was ich eben noch offenbart habe, so ehrlich und nackt. »Ich will mich auf die Lauer legen. Oben.« Mit dem Daumen deutet er zur Decke. »Ich will wissen, wer die Schmierereien an die Wand schreibt. Machst du mit?«
Vorsicht, Linna. Überlege erst, bevor du antwortest. Ja, natürlich will ich, ja, ja, ja. Aber war das eine Fangfrage? Möchte er testen, ob ich doch diejenige von uns gewesen sein kann, die diese beiden Botschaften an die Wand geschrieben hat? Immerhin hat er vorhin noch gesagt, dass ich einen Grund hätte, mich zu rächen. Aber dann muss ich sowieso einwilligen.
»Ich bin dabei.« Klinge ich jetzt wieder kühl und emotionslos? Wenn ja, ist es mir willkommen. »Aber vorher sollten wir uns um das Brennholzproblem kümmern, oder?«
Den letzten Rest haben wir heute Morgen verfeuert, im Anbau ist nichts mehr. Wir müssen wohl oder übel den Schuppen kurz und klein schlagen. Falk tippt sich nachdenklich an die Nase.
»Es muss hier irgendwo Holz geben. Hundertprozentig. Vielleicht versteckt unter dem Schnee oder unter Tannen, weiter hinten. Wer so eine Hütte bewirtschaftet, macht genügend Holz für den Winter. Wir müssen danach suchen.«
Ich bin dankbar über das »Wir«. Ich kann nicht noch einen Tag eingesperrt in meinem Zimmer verbringen, in dessen Wänden so viele grässliche Dinge passiert sind. Draußen werde ich mich sicherer fühlen als hier, der Lawinengefahr und der eisigen Kälte zum Trotz. Doch eines muss ich noch wissen, bevor wir uns auf die Suche machen.
»Falk, warst du das heute Nacht? Bist du zu mir ins Zimmer gekommen und hast …« Ich mache eine undefinierbare Handbewegung, ich weiß selbst nicht, was ich da andeuten will. Es ist mir peinlich. »Du weißt schon. Ich hab demjenigen eine reingehauen und dachte, dass ich ihn daran erkenne, aber dann …« Ich deute auf seine Schwellung. »Jetzt habe ich drei zur Auswahl.«
Falk versucht, höflich zu sein und sein Grinsen zu unterdrücken, aber es gelingt ihm mehr schlecht als recht. »Du hast echt keine Ahnung, wer es war?«
»Nein. Es war stockdunkel und er hat sich an mich herangeschlichen, als ich geschlafen habe, ich bin erst durch sein Gefummel aufgewacht. Und dann hab ich reagiert.« Ja, das habe ich, doch ich hätte es noch schneller tun sollen, gleich im ersten Moment, in dem ich seine Hand an meinem Knöchel spürte, auch wenn ich ihn dann weniger gut erwischt hätte. Aber das zu sagen, würde nur meine Glaubwürdigkeit mindern.
»Linna …« Falk kratzt sich am Kinn, das inzwischen von einem dunklen Dreitagebart bedeckt ist. »Ich gebe zu, wir haben ziemlich viel getrunken und ich kann dir auch nicht mehr sagen, warum Jules plötzlich in die Sauna wollte und sauer wurde, aber ich erinnere mich gut daran, wie ich mich
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