Linna singt
dort sie sowieso nicht verstehen würden und ihr nicht helfen könnten.« Nun ist mein Ton doch lauter geworden.
»Aber … aber man hat sich erzählt, dass eine Frau Sommer spätnachts in Landeck eingeliefert wurde, sie wurde mit einem Krankenwagen bei euch abgeholt und …«
»Dann erzählt man sich etwas Falsches«, falle ich dazwischen. Ich muss mich zwingen, meine Hände nicht zu Fäusten zu ballen. »Du weißt doch, wie das in Speyer ist, jedes Gerücht wird bis zum Gehtnichtmehr aufgebauscht. Sie hatte einen Zusammenbruch und sollte in der psychiatrischen Tagesklinik sechs Wochen lang behandelt werden. Wie schon gesagt, daraus wurde nichts. Meine Mutter hält nichts von Psychologen.« Ich mache eine Pause, um zu Luft zu kommen. Vor lauter Anspannung habe ich vergessen zu atmen. Ich tue es so unauffällig wie möglich, obwohl meine Lungen flattern. »Ich wusste gar nicht, dass du so ein Tratschbedürfnis hast, Jules.«
»Habe ich nicht«, erwidert er schnell. »Ich wollte nur wissen, ob das stimmt, was meine Eltern aufgeschnappt haben und worüber sich das ganze Dorf das Maul zerrissen hat.«
»Das ist Tratschbedürfnis.«
»Nein, ist es nicht, Linna! Ich werde ja wohl noch nach der Wahrheit fragen dürfen, das ist schließlich der Sinn dieses Spiels!« Wie in einer Übersprunghandlung schnappt sich Jules eine Nuss und will sie sich in den Mund schieben, ohne sie vorher zu knacken. Erst als seine Lippen sie berühren, merkt er, was er da tut, und wirft sie mit einem genervten Stöhnen zurück in die Schale. Unter einem weiteren Seufzen und den aufmerksamen Blicken von Simon kickt er mir mit der Fußspitze die Flasche entgegen. Offensichtlich wurde meine Antwort von der versammelten Runde für die Wahrheit und nichts als die Wahrheit befunden. Trotzdem habe ich das Gefühl, nur knapp einem Sturz in den Abgrund entkommen zu sein. Doch zugleich habe ich mir einen Vorteil verschafft. Ich darf drehen. Nun werde ich versuchen, Falk zu treffen, bevor diese ganze Geschichte ausartet. Aber ich gebe der Flasche zu viel Schwung, ihr Hals zeigt auf Maggie, als er endlich verebbt. Gut, dann eben Maggie. Da gibt es doch einiges, was ich schon immer wissen wollte.
»Kannst du mich überhaupt leiden?«
Maggie erstarrt. Auch die anderen rühren sich nicht. Ich weiß, dass jeder von uns sich diese Frage schon gestellt hat, und das wahrscheinlich nicht nur einmal. Sie ist berechtigt. Vielleicht sogar die berechtigteste Frage, die man bei diesem Spiel stellen kann. Denn ich bin mir sicher: Wenn ich nicht Musikerin und eine gute Sängerin gewesen wäre, hätte Maggie niemals meine Nähe gesucht.
»Was soll das denn jetzt?« Maggies Stimme kiekst. »Wieso fragst du so etwas?«
Ich antworte nicht, sondern blicke sie unverwandt an. Nach ein paar Sekunden weicht sie zur Seite aus. Simon streicht tröstend über ihren Arm und schüttelt dann entschieden den Kopf.
»Ich denke, das geht jetzt zu weit. Lavinia, ich …«
»Nein«, unterbricht Maggie ihn erstickt. »Ich … ich möchte nicht aufhören mit dem Spiel. Aber – darf ich die Frage an Linna zurückgeben?«
Alle schauen mich an. Die Spannung ist auf dem Siedepunkt, jetzt schon, nach nur wenigen Fragen. Keiner will in diesem Moment mit dem Spiel aufhören. Wahrscheinlich selbst Simon nicht, obwohl sein Gerechtigkeitssinn ihn dazu ermahnt.
»Von mir aus«, antworte ich reserviert.
Verstockt sieht Maggie zu mir auf. »Gut. Kannst du mich überhaupt leiden, Linna?«
Ich nehme mir Zeit, über meine Antwort nachzudenken. Kann ich Maggie leiden? Ich finde die Frage nicht ketzerisch. Sie ist ebenso berechtigt wie meine Frage, ob sie mich leiden kann, vor allem seit gestern Abend. Wie war es, als wir uns kennengelernt haben? Sie ging in die gleiche Klasse wie Falk, saß aber bei mir im Religionsunterricht, ja, und eines Morgens war unser Lehrer krank und die Vertretung übernahm Herr Rath. Herr Rath dachte nicht eine Sekunde daran, uns Religionsunterricht zu geben, sondern schwafelte ununterbrochen von Musik und seinem Schulchor, für den man vorsingen müsse, wenn man mitmachen wolle, und wir Sechstklässler seien ja noch zu jung dafür, bei den Jungen sei ein Mitwirken im Chor ohnehin undenkbar, da sie ihren Stimmbruch erst vor sich hätten. Herr Rath war weder sympathisch noch ein Lehrer, der für Gerechtigkeit oder guten Unterricht bekannt war, aber mit seinem fast schon legendären Schulchor redete er uns den Mund wässerig, Maggie und mir. Ich empfand schon damals
Weitere Kostenlose Bücher