Linna singt
eine Art Solidarität mit Maggie, weil unsere Eltern uns beiden solch scheußliche Namen verpasst hatten, Margarethe und Lavinia. Ich war es, die ihr den Spitznamen Maggie schenkte. Sie denkt bis heute, dass ich ihn den Simpsons entlehnt habe. Dabei dachte ich an Maggie Reilly, Mike Oldfields rothaarige Lieblingssängerin. Eigentlich könnte Maggie diesen Bezug als Kompliment nehmen, denn perfekter als Maggie Reilly kann man Moonlight Shadow oder To France kaum singen.
An diesem Morgen spürte ich, dass Maggie ebenso sehnsüchtig an diesen Chor dachte wie ich. Maggie dachte sehnsüchtig daran, weil sie ihn als weiteren Meilenstein ihrer musikalischen Karriere betrachtete. Schon als Zwölfjährige brannte sie vor Ehrgeiz. Ich dachte sehnsüchtig daran, weil der Schulchor berüchtigt für seine ausgedehnten und abenteuerlichen Probenwochenenden war und ich jede Gelegenheit nutzte, von zu Hause wegzukommen. Dieses Jahr sollte noch eine dieser Freizeiten stattfinden. Wir hatten beide triftige Gründe, in den Schulchor aufgenommen zu werden. Rath spürte das. Er war ein Rattenfänger.
Das Ende vom Lied war, dass er uns beiden Noten zu einem Duett gab, Maggie Mezzosopran und mir Sopran, und uns herausforderte, es vor der ganzen Klasse zu singen. Nur wer bis zum Ende durchhalte, habe die Chance, in den Chor zu kommen. Wir fühlten uns wie Gladiatoren vor dem großen Kampf, als wir zu ihm an den Flügel traten. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass wir bis zum Schluss durchhalten würden, ich wusste nur nicht, wie wir uns dabei schlugen. Ob es reichen würde, aufgenommen zu werden. Tatsächlich verloren wir uns zwischendurch; jedes Singvogelkonzert klang harmonischer als das, was wir über einige Takte hinweg fabrizierten, aber wir fanden uns wieder und hielten bis zum finalen Notenschlüssel durch, womit selbst Rath nicht gerechnet hatte. Er belohnte uns mit je einem Täfelchen Bitterschokolade und lud uns in die nächste Chorprobe ein.
Von nun an durchliefen Maggie und ich unsere musikalische Ausbildung im Dauerduett. Gemeinsamer Schulchor samt Freizeiten (in denen ich die meiste Zeit bei den Jungs aus der Oberstufe verbrachte, die mich freches Ding irgendwie klasse fanden, während Maggie über Partituren brütete), gemeinsames Vororchester (Maggie Geige, ich Bratsche, obwohl ich lieber Cello gelernt hätte wie Simon), gemeinsames Sinfonieorchester, gemeinsamer Kirchenchor, gemeinsame Musikfreizeiten in den Schulferien. Diese Musikfreizeiten waren wie Inseln. Denn Jules war nicht dabei. Ja, Maggie hatte Urlaub von ihrer Jules-Schwärmerei und ich erlebte sie locker, wie sie in der Schule nie sein konnte. Für die anderen waren wir die Unzertrennlichen auf diesen Freizeiten; wir schliefen in einem Zimmer, übten zusammen, sangen zusammen, sogar abends beim Folkloretanz fegten wir Hand in Hand übers Parkett. Doch abseits der Musik gingen wir getrennte Wege – bis Maggie die Idee zu der Band hatte und ich in der Klassik nicht mehr das fand, was ich suchte. Ich hatte ein schönes, glockenhelles Sopranstimmchen – bei Pictures in the Dark habe ich es auch mit Linna singt eingesetzt, obwohl ich mich eigentlich grundsätzlich weigere, Mike zu covern –, spielte leidlich Bratsche und ganz gut Klavier, aber es war nicht zu vergleichen mit dem, was ich in der Band leistete und empfand. Mit meiner richtigen Stimme, nicht mit meiner Kopfstimme. In der Band war ich frei. Ich konnte mich bewegen, während ich sang. Ich konnte allem viel mehr Ausdruck verleihen. Und für Maggie war sie die Erfüllung ihrer heimlichen Träume.
Aber war das, was uns verband, eine Freundschaft? Oder hatten wir es allein der Musik zu verdanken, so viel Zeit miteinander verbracht zu haben? Vielleicht auch Simon, der uns fast überall mit seinem Cello begleitete und mit dem ich immer besser auskam als mit seiner Zwillingsschwester? Doch genau genommen war das gar nicht die Frage gewesen. Ich hatte Maggie gefragt, ob sie mich leiden könne, nicht, ob wir eine Freundschaft hätten. Das sind manchmal zwei verschiedene Paar Schuhe. Ja, vielleicht wäre Maggie nicht meine erste Wahl, wenn ich mir eine Freundin aussuchen könnte, denn ihr ständiger Neid und ihre Eifersucht wegen Jules haben mir manchmal den letzten Nerv geraubt, aber wann immer jemand Maggie ein Haar krümmen wollte, trat ich auf den Plan und habe Simon das abgenommen, wozu er nicht in der Lage war. Ich habe mich an einem eisigen Wintertag sogar mit dem Oberproleten unserer Stufe geprügelt,
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