Linna singt
weil er Maggie rücksichtslos eingeseift hatte, obwohl sie an einer eitrigen Mittelohrentzündung litt. Ich glaube nicht, dass sich daran etwas geändert hat. Ich würde es immer noch tun.
»Ehrlich gesagt …« Ich zögere, entscheide mich dann jedoch weiterzusprechen. »Ich weiß es nicht genau. Ich habe aber das Gefühl zu lügen, wenn ich sage, dass ich dich nicht leiden kann. Ich weiß es nicht, Maggie. Du machst es mir schwer.«
Maggie setzt an, etwas zu sagen, schluckt es dann wieder herunter, versucht es ein zweites Mal – erfolglos. Sie hat ihre Sprache verloren wie ich meine Stimme. Auch die anderen schweigen. Aber zum Teufel, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit. Von allen Frauen, denen ich in meinem Leben begegnet bin, steht mir Maggie immer noch am nächsten, näher als meine eigene Mutter. Vielleicht hat sie es nicht verdient, weil sie mich stets als männermordenden Vamp betrachtete, aber es ist so. Ich werde nie vergessen, wie zwei Sekunden vor dem Einsatz zur Ouvertüre der Zauberflöte alle Haare ihres Bogens absprangen. Es war ein Moment voller unfreiwilliger Komik: Da saß dieses hoch motivierte, ehrgeizige rotblonde Mädchen mit Zahnspange und Brille in der ersten Geige, den Bogen gezückt, den Blick fest auf den Dirigenten gerichtet, und mit einem sanften Plopp lösten sich sämtliche Haare und klatschten wie ein Pferdeschwanz auf die Saiten ihrer Violine, weil sie ihren Bogen in ihrer Aufregung zu fest gespannt hatte. Die Jungs im Orchester lachten höhnisch und auch im Publikum wurde unterdrücktes Kichern laut. Selbst Simon konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Für mich jedoch war sofort klar, was ich tun musste. Ich stand auf, lief nach vorne, drückte ihr meinen Bogen in die Hand und beschränkte mich darauf, die wenigen Stellen mitzuspielen, an denen gezupft und nicht gestrichen wurde. Eine erste Geige ist wichtiger als eine zweite Bratsche, doch vor allem war es Maggie wichtiger zu spielen als mir. Ich hatte nie vor, es mit der Musik weit zu bringen. Dafür liebte ich sie zu sehr. Ich wollte sie nicht fremden Regeln unterwerfen, denn das passiert unweigerlich, wenn man es als Musiker weit bringen will. Nur aus diesem Grund konnte Maggie jahrelang in einer Band spielen: weil ich mich nicht von den raffgierigen Managern kaufen ließ, die uns nach unseren Konzerten auflauerten und die große, weite Welt versprachen, damit ich mich anschließend für sie prostituierte. Denn das Erste, was sie getan hätten, wäre, Maggie auszusortieren. Wenn ich es so betrachte, hat sie mir viel zu verdanken, aber auch heute bringt sie es nicht fertig, mich anzusehen.
»Wer dreht denn jetzt an der Flasche?«, fragt sie kleinlaut, ohne ihre dick getuschten Wimpern zu heben. »Du oder ich?«
»Am besten keiner von uns«, beschließe ich. »Tobi, willst du?«
Er überhitzt noch, wenn er nicht gleich drankommt, und ich habe keine Lust darauf, dass die Flasche ein weiteres Mal bei Maggie landet und ich sie erneut in die Bredouille bringe. Dabei müsste sie wissen, dass ich sage, was ich denke – ob es ihr gefällt oder nicht.
Niemand protestiert, als ich Tobias die Flasche zuschiebe. Seine Lippen spitzen sich und sein Blick wird konzentriert. Hat er etwa ein bestimmtes Frageopfer im Visier? Ganz klar, er versucht zu zielen, wie ich eben noch. Mit dem Unterschied, dass es bei ihm funktioniert. Wie die Nadel eines Kompasses pendelt sich der Flaschenhals exakt vor meinen Beinen aus. Unmissverständlich Linna. Das hat er ja fein hingekriegt. Mich fuchst es, dass Falk noch nicht dran war. Das ist so typisch, Menschen wie ihn erwischt es nie, während ich ständig in die Mangel genommen werde. Aber was sollte Tobi schon für verfängliche Fragen stellen?
Seine rehbraunen Augen blinkern mich verschmitzt von unten an.
»Wie oft machst du es dir selbst?«
Meine Güte, ist der Knabe dreist.
»Stündlich, und ich denke dabei immer nur an dich«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen und kann dabei zusehen, wie die Röte von seinem Hals hinauf in die Wangen wandert. Jules grinst breit, Maggie vergräbt prustend das Gesicht in ihren Händen. Was Falk denkt, weiß nur der liebe Gott, aber er gibt Tobias einen mahnenden Klaps auf den Hinterkopf.
»He, he, he, Kleiner, nicht unverschämt werden!«, will Simon ihn zur Räson bringen. »So geht’s nicht! Ich denke, wir verzichten bei dieser Frage auf die Wahrheitsprüfung, oder? Was meint ihr?«
Einträchtiges Nicken; niemand merkt, welch unfreiwillige
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