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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Regelwerk ausdenken und Pflicht von vornherein streichen.«
    »Dann tu das doch«, erwidere ich auffordernd. »Du bist der Jurist unter uns.«
    Simon widerspricht nicht. Volltreffer. Er studiert wahrhaftig Jura. Und mein Vorschlag bringt Leben in sein quadratisches Gehirn. Schon setzt er sich neben Maggie an den Tisch und beginnt mit ihr zu flüstern.
    Tobi lässt sich vom Ofen gleiten. Er wirkt aufgeregt, als dürfe er gleich eine halsbrecherische Achterbahn austesten. Für ihn ist das ja auch alles ein großer Spaß, er hat keine konfliktbehaftete Vorgeschichte mit uns. Da ist jede Frage spannend und harmlos zugleich, während für uns jede Frage zu einem emotionalen Spießrutenlauf werden kann. Oder nur für mich? Werden sie mich nach der Bandauflösung befragen? Nach dem, was damals in Wahrheit passiert ist? Noch haben sie kein Wort darüber verloren, obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass sie nicht darüber nachdenken. Aber ich kann ihnen nichts dazu sagen und ich will es auch nicht, ich schaffe es ja nicht einmal, mich daran zu erinnern. Dann lieber eine Strafe. Trotzdem bin ich neugierig. Ich halte nicht viel von derlei Spielen, aber vielleicht lockert es die Stimmung.
    »Seid ihr überhaupt alle sicher, dass wir es spielen wollen? Ja?« Simon schaut uns prüfend der Reihe nach an. Ich nicke zögerlich, genauso wie Jules, während Falk gar keine Regung zeigt und Tobi ein klares Ja erklingen lässt. Schließlich hat er nichts zu verlieren. »Gut, dann sehen wir uns in zehn Minuten auf dem Dachboden und ich lese euch die Regeln vor. Wir spielen es nur, wenn alle mit diesen Regeln einverstanden sind.«
    Ich verdrücke mich ohne ein weiteres Wort nach draußen, um noch etwas Sauerstoff zu tanken, bevor es losgeht. Die Luft ist eisig geworden, jeder Atemzug schmerzt in meiner Kehle und der Himmel hat sich zugezogen. Jules tritt neben mich und blickt wie ich hinauf zu den Wolken, die sich gegenseitig zu jagen scheinen, obwohl es hier unten windstill ist. Auch der Mond hat einen Halo, genau wie heute Morgen die Sonne.
    »Es wird einen Sturm geben«, sage ich leise.
    »Unkst du mal wieder?« Jules stößt mir sanft den Ellenbogen in die Seite. »Wetterhexe …«
    »Nein, ich meine es ernst, Jules. Das sieht nicht gut aus.«
    Früher habe ich das bis zur Besessenheit betrieben, Wolkenformationen studiert und gedeutet, ich hatte sogar eine kleine Wetterstation im Garten; ich habe Schnee gerochen und Regen und Sturm, lange bevor sie übers Land zogen. Seitdem das nicht mehr möglich ist, habe ich dieses Hobby aufgegeben, aber jetzt braucht es keine feine Nase, um zu wissen, dass das Wetter nicht so schön bleiben wird wie heute. Prüfend versenke ich meine nackte Hand im Schnee, der wie eine weiße Haube auf der Lehne der Bank vor uns liegt. Die obere Schicht ist gefroren, darunter fühlt er sich pulvrig an und wird dann schwer und nass, bis meine Finger auf eine feste Eisschicht stoßen. Die Temperaturen müssen mindestens um fünf bis zehn Grad gefallen sein. Und dazu Sturm? Wenn meine Mutmaßungen wahr werden, können wir uns auf etwas gefasst machen.
    In stillem Einvernehmen schauen Jules und ich dem Treiben der Wolken zu, bis wir die Kälte nicht mehr ertragen und gemeinsam nach oben auf den Dachboden gehen.
    Falk, Luna und Tobi sind bereits da. Falk stochert mit geübten Bewegungen in dem Bullerofen herum; derweil tut Tobi das, was er am besten kann: Er macht es uns nach allen Regeln der Ikea-Kunst gemütlich. Ein Teelicht hier, ein Teelicht da, eine Schale mit Nüssen, eine Kanne Tee mit Zitronenscheibchen; gleich müssen wir Hand in Hand im Kreis tanzen und dazu ein Lied singen, bevor wir uns ganz legitim verbal an die Gurgel gehen dürfen. Brot und Spiele!
    Zuletzt kommen Simon und Maggie nach oben. Maggie schließt die Tür, während Simon ein zusammengerolltes Blatt auseinanderzieht. Er hat die Regeln tatsächlich schriftlich festgehalten. Doch keiner von uns traut sich, darüber zu schmunzeln.
    »Also gut. Maggie und ich haben das Regelwerk nach bestem Gewissen erstellt. Sollte einer von euch nicht damit einverstanden sein, wird das gesamte Spiel hinfällig. Bei Regelverstößen wird das Spiel mit sofortiger Wirkung beendet. Die Regeln lauten wie folgt: Die Rubrik ›Pflicht‹ existiert nicht mehr. Gespielt wird mit einer leeren Flasche, die in die Mitte der im Kreis sitzenden Teilnehmer gelegt und wie üblich gedreht wird, bis sie mit dem Hals auf eine Person zeigt. Wer zuerst dreht, entscheidet das Los.

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