Linna singt
…«
»Auch das noch«, raune ich entgeistert. »RCDS.« Die Studenten-CDU, eine Gemeinschaft beflissener Besserwisser, die ihre Zunge meistens mitten im Arsch der Professoren haben.
»Ja, auch das noch! Na und?« Nun ist Simon gereizt. »Nur weil du den Ernst des Lebens noch nicht kennengelernt hast, heißt das nicht, dass das, was andere tun, verkehrt ist! Ich engagiere mich und ich tue das gerne!«
»Ernst des Lebens! Du glaubst gar nicht, wie sehr ich den schon kennenlernen durfte«, rutscht es mir heraus. »Antwort akzeptiert, weiter«, setze ich rasch hinterher, bevor jemand merkt, wie viel bittere Wahrheit in meinen Worten steckt.
Maggie stößt hörbar die Luft aus. Sie ist froh, dass ich von Simon ablasse, aber dieses Gefühl teile ich mit ihr. Ich kam mir vor, als würde ich jemanden treten, der schon verwundet in der Ecke liegt, obwohl ich mir diesen Eindruck nicht zufriedenstellend erklären kann, denn Simon hat sich freiwillig in diese Ecke gelegt und verwundet ist er auch nicht. Ich schubse die Flasche zu ihm hinüber, ohne ihm ins Gesicht zu sehen. Seine Fingerkuppen hinterlassen fettige Abdrücke auf dem dunkelgrünen Glas, als er sie mit einer zackigen Bewegung zum Rotieren bringt. Sie gerät ins Trudeln, hält aber den Kurs und landet schließlich bei Jules. Simon überlegt einen Moment, während er mit dem Daumen über sein Kinn streicht, immer wieder die gleiche Bewegung, fast schon notorisch. Dann räuspert er sich und blickt fest zu Jules rüber.
»Hast du eine heimliche große Liebe?«
Wieder muss ich lachen, dieses Mal, weil ich nicht glauben kann, was Simon da fragt. Er fällt seiner eigenen Schwester in den Rücken! Wie kann man seinem Schwager nur solch eine Frage stellen? Außerdem ist das Flaschendrehen auf dem Niveau von Fünftklässlern – genau das, was wir eigentlich umgehen wollten.
»Hey, Simon, das kannst du nicht bringen …«, versuche ich Jules und vor allem Maggie aus dieser hochnotpeinlichen Situation zu befreien. Doch Maggie bleibt erstaunlich ruhig.
»Ist schon okay! Los, Julian, antworte.« Obwohl ihre Stimme sanft ist, klingen ihre Worte wie ein Befehl. Ach, Moment, ich verstehe … Sie muss diese Frage vorhin mit Simon abgesprochen haben und will, dass mir in aller Öffentlichkeit unmissverständlich klargemacht wird, nicht Jules’ heimliche Liebe zu sein, weil Jules keine heimliche Liebe hat. Doch dafür hätten wir kein Flaschendrehen spielen müssen. Das weiß ich auch ohne Maggies Schachzug.
»Jules? Willst du nicht antworten?«, hakt sie nach, als er nicht reagiert.
»Doch«, entgegnet Jules verschlossen. Er hasst es, über Gefühle zu sprechen – wenigstens etwas, woran sich nichts geändert hat. »Es gibt keine andere Frau in meinem Leben als Maggie und das wird auch immer so bleiben.«
»Amen«, kommentiere ich sein leidenschaftsloses Statement. Ich hoffe, er hat sich beim Eheversprechen in der Kirche mehr Mühe gegeben. »Los, dreh weiter, bevor ich hier noch einschlafe.«
Es kracht vernehmlich, als Tobi einer Nuss den Garaus macht, beinahe wie ein Gewehrschuss, der auf morsche Knochen trifft. Wir hätten Musik einschalten sollen. In diesem Raum ist es zu still, so ruhig sitzen wir auf unseren Plätzen, so gebannt schauen wir der sich immer langsamer drehenden Flasche zu. Schon bei ihrer letzten Runde ahne ich, dass sie bei mir enden wird, und genau so ist es. Ich merke, wie Maggie sich neben mir aufrichtet. Sie ist nervöser, als ich es bin.
»Stimmt es, dass deine Mutter in der Klapse war?«
Ich schließe für einen Moment die Augen. Treffer, versenkt. Damit habe ich nicht gerechnet. Klapse … Was für ein abfälliges, gemeines Wort. Ich mag es nicht. Ich mag es selbst dann nicht, wenn es sie betrifft. Hätte Jules nicht ein anderes Wort wählen können, warum das, Klapse? Auf den ersten Blick ist es eine simple Frage, die kurz und schmerzlos mit Ja oder Nein beantwortet werden könnte. Aber wenn ich sie nur mit Nein beantworte, lüge ich und nehme sie zudem in Schutz, das will ich nicht. Sage ich Ja, gebe ich Raum für unendlich viele Spekulationen und die meisten von ihnen werden schmutzig sein.
»Psychiatrische Tagesklinik«, antworte ich mit aller Beherrschung, die ich aufbringen kann. Ich klinge entspannt, obwohl mir übel ist. »Klapse ist kein Fachterminus, Jules. Sie sollte zur Behandlung in eine psychiatrische Tagesklinik, aber sie hat nur drei Tage durchgehalten und brach ihre Therapie ab, weil sie der Meinung war, dass die Leute
Weitere Kostenlose Bücher