Linna singt
bekommt, wenn man reiten kann. Die Kinder sitzen auf dem Pferd, bevor sie laufen können, und ich bin überzeugt davon, dass auch ich nur wenige Stunden Übung brauche, um mich im gestreckten Galopp auf dem Rücken eines Pferdes halten zu können. Es ruht in meinen Genen. Es muss nur erweckt werden.
Abwartend bleibe ich neben der Tür stehen und schaue mich um. Ein ziehendes, flaues Gefühl schleicht sich in meinen Bauch, als ich Falk sehe, wie er halb auf dem Boden, halb auf Luna liegt und seine Gitarre im Arm hält, ganz nah an seinem Brustkorb. Ich habe mir einen dicken Schal um den Hals gewickelt, damit gar nicht erst die Frage nach einer Probe aufkommt, allen muss klar sein, dass das Arbeiten draußen in der Kälte nicht förderlich für meine Genesung war. Dabei sitzt nur das übliche Kratzen in meiner Kehle, von Schmerzen keine Spur.
Maggie, die vor dem Ofen kniet und einen Stapel CDs durchsieht, lächelt mir versöhnlich zu; ich nehme an, Jules hat ihr gesagt, dass wir uns in der Sauna knapp verpasst haben. Sehe ich sogar die Spur eines schlechten Gewissens in ihren Augen? Oder ist das, was sie mir präsentiert, nur eine Masche? Jules und Tobi sitzen dicht nebeneinander an der Wand und sind in ein Gespräch vertieft, Jules scheint Tobi etwas zu erklären und merkt dabei nicht, wie der immer näher an ihn heranrückt. Das gleiche Prinzip wie in der Sauna, noch ein paar Zentimeter und er hockt bei ihm auf dem Schoß. Doch ich finde es nicht ungewöhnlich, dass ein junger Kerl wie Tobi die Nähe zu Jules sucht. Das gab es immer wieder. Jules hätte wie Jesus seine Jünger um sich scharen können, wenn er gewollt hätte. Ich glaube, die Jungs dachten, seine Coolness färbe auf sie ab, wenn sie nur dicht genug bei ihm blieben und kräftig sein Heldenaroma inhalierten.
»Okay, dann seid mal bitte still!«
Maggie stellt die Musik leiser und Jules und Tobi unterbrechen ihr Gespräch, nur Falk behält die Gitarre auf seiner Brust.
Simon postiert sich in die Mitte des Raums, damit wir ihn auch ja gut hören und sehen können. »Wir haben heute wohl alle gemerkt, dass wir als Gruppe zusammenhalten müssen. Und das sollten wir auch, anstatt uns gegenseitig Steine in den Weg zu legen. Ab jetzt sollten wir offen sagen, was wir auf dem Herzen haben. Wir brauchen dafür kein Flaschendrehen. Wer etwas von jemand anderem wissen möchte, sollte ihn direkt fragen, und wenn er nicht antworten möchte, ist das zu akzeptieren. Genauso wie der Charakter jedes Einzelnen hier akzeptiert werden sollte. Keine Kleinkriege und Psychospiele mehr, okay?«
»Ja, Papa«, raune ich sarkastisch, obwohl ich Simon gern in jedem Punkt zugestimmt hätte, doch ich bin der Meinung, dass der Zug dafür längst abgefahren ist – und zwar bevor wir uns wiedergesehen haben und hierher in die Berge gefahren sind. Maggie, Jules und Falk tauschen einen kurzen Blick aus, den ich nicht zu deuten vermag, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch sie Simons Ansprache eher belächeln als ernst nehmen. Außerdem hat es Maggie immer gewurmt, wenn Simon sie belehrt hat. Sie ist die Ältere, zwar nur um zwei Minuten, aber auf die legt sie Wert. Wann immer Simon sie zurechtwies, fühlte sie sich bemüßigt, das Gegenteil von dem zu machen, was er wollte. Trotzdem widerspricht niemand.
»Und was spielen wir heute Abend?«, setze ich der betretenen Stille ihr wohlverdientes Ende. »Topfschlagen?«
Maggie schnaubt leise und grinst in sich hinein. Auch die anderen wirken erleichtert. Ich mache einen Witz über gestern Abend, also habe ich ihnen verziehen. Da irren sie sich, doch ich möchte auch nicht darüber reden. Schon gar nicht, wenn Falk dabei ist. Es ist schon schwierig genug, sich zusammen mit ihm in einem Raum zu befinden, ohne ihm wahlweise die Augen auszukratzen oder sich zu ihm und Luna zu legen.
»Wie wäre es mit ›Hänschen, piep einmal‹?« Ich schaue überrascht auf. Maggies Grinsen wird mutiger. Oh, ich weiß, worauf sie anspielt. Ehe ich mich dagegen wehren kann, grinse ich zurück. Sie meint die Abende auf unserer letzten Musikfreizeit, neunte Klasse. Wir waren alle im besten Teenageralter und entschieden uns trotzdem, »Hänschen, piep einmal« zu spielen. Ich hatte Schmerzen vor Lachen, es war etwas völlig anderes als zu Kinderzeiten. Wir fanden es urkomisch, uns mit verbundenen Augen auf einen fremden Schoß zu setzen und den Menschen, auf dem wir so vertrauensvoll Platz genommen hatten, zu bitten, einen Piepser
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