Linna singt
du es?, denke ich so intensiv, wie ich nur kann. Dann gib mir ein Zeichen, bitte. Bitte!
Doch nichts geschieht. Er hört meine Gedanken nicht. Also muss ich eine weitere Entdeckungsreise starten und mir seine Brust vornehmen, auch wenn die Scheu, die mich bei dieser Vorstellung jäh überfällt, die Hitze in mein Gesicht schießen lässt. Falks Brust war glatt, keine Haare, und auch diese Brust ist … hm … glatt, aber glatt rasiert. Oder? Ich fahre mit den Fingerkuppen über sein Brustbein und wieder zurück, dann mache ich das Gleiche wenige Zentimeter weiter links – ja, sie ist rasiert, ich spüre die nachkommenden Haare, wenn ich gegen die Wuchsrichtung streiche. Nicht viele, aber sie sind da. Rasierte Brust? Traue ich sowohl Jules als auch Tobias zu. Und ja, auch Falk. Falk hat dichtes Haar und dichte Brauen, er müsste Haare auf der Brust haben, vielleicht hat er sie damals schon rasiert und ich habe es nur nicht bemerkt …
Ich habe seine Brust geküsst, das weiß ich noch, ich küsste sie, während seine Hände durch mein langes Haar fuhren, und als würde bei dieser plötzlichen Erinnerung eine Kinoleinwand in der Dunkelheit meines Kopfes erstrahlen, sehe ich ihn wieder vor mir, ein blitzartiges Aufleuchten, ich schaue tief in seine schwach schimmernden Augen, bevor ich meine Lippen gegen seine Brust drücke und mit der Zunge sanft seine Haut liebkose …
»Hör auf! Finger weg!« Der Schlag kommt so unvermittelt, dass ich mich nicht dagegen wehren kann. Mein Kopf wird brutal zur Seite geschleudert. Mit einem lauten Klacken schlagen meine Kiefer aufeinander und erwischen die Innenseite meiner Wange, sofort schmecke ich Blut. »Fass mich nicht an, du Schlampe, sonst …«
Ich reiße mir den Schal vom Gesicht und ringe keuchend nach Luft. Jules’ Augen sind dunkel vor Abscheu, sein Mund ist zur Unkenntlichkeit verzerrt und noch immer hat er die Hand erhoben, als wolle er ein weiteres Mal zuschlagen. Er hat mich geschlagen? Jetzt reagiert mein Körper, ich balle meine Rechte zur Faust und will sie ihm in den Brustkorb rammen, doch Jules ist schon aufgestanden und tritt vor mir zurück, als übertrage ich die Pest.
»Verdammt, Linna, ich bin verheiratet!«, brüllt er, ehe ich etwas sagen kann.
Jemand legt mir seine Hand auf die Schulter, »Linna, alles okay?«, aber ich schüttele sie ab, ich will jetzt nicht berührt werden, von niemandem. ’
»Habt ihr den Verstand verloren?«
Auch Simon kann brüllen, stelle ich benommen fest, lauter sogar als Jules, und seine helle Stimme bringt ein wenig Klarheit in meinen schmerzenden Kopf. Ich habe Jules’ Brust geküsst, ach, was heißt geküsst, ich habe sie mit der Zunge berührt, außerdem lagen meine Hände auf seiner nackten Haut, was mir in diesem Moment gar nicht bewusst war, dabei dachte ich, es sei Falk, ich hatte für einen Augenblick alles vergessen, die anderen und das Spiel und das, was ich hier eigentlich tun sollte, ich war in meine Erinnerungen gerutscht …
Der Schlag dröhnt in meinem Schädel, nach wie vor kann ich nicht scharf sehen. Knock-out. So muss es sich für meine Gegnerinnen anfühlen, wenn ich sie außer Gefecht setze. Hastig springe ich auf und suche Maggies Blick, doch ich muss mich umdrehen, um sie ansehen zu können, denn sie sitzt schräg hinter mir, die Hände auf den Knien und mit halb offenem Mund. Sie wirkt wie erstarrt, guckt nur abwechselnd zu Jules und dann wieder zu mir, ohne sich zu regen.
»Warum«, flüstert sie. »Warum …?«
»Ich dachte, es ist Falk, Maggie! Ehrlich!« Eigentlich müsste ich Jules eine verpassen, ihn anklagen, ihm in die Eier treten, doch Maggies leerer Blick lähmt mich. Wir alle schauen sie an, als könne sie uns verraten, was eben geschehen ist.
»Ist okay, Linna«, sagt sie mechanisch. Mit einem Mal kehrt das Leben in ihren Körper zurück. In ihren Augen sammeln sich Tränen und ihre Schultern sacken nach unten. »Ist okay …«, wiederholt sie so leise, dass ich es nur von ihren Lippen ablesen kann. Nicht ein Hauch der Erleichterung oder Befriedigung ist in ihrem Gesicht zu erkennen. Aber auch kein Vorwurf.
»Du kommst jetzt mit mir«, fährt Simon sie herrisch an und zieht sie am Arm nach oben. »Wir müssen reden.« Maggie lässt sich ohne Gegenwehr auf die Beine schleifen und stolpert Simon hinterher nach unten. Dann schlägt die Tür zur Stube zu.
»Jules, was ist nur los mit dir? Warum machst du das?« Ich will ihn anschreien, doch zum ersten Mal in meinem Leben gelingt es
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