Linna singt
wenigstens sind sie glücklich gewesen.
»Es ist niemand hier, Mama«, wispere ich, so müde, dass ich meine Lippen kaum noch bewegen kann. »Ich bin ganz allein. Wenn ich jetzt sterbe, sterbe ich allein.«
Für einen Moment setzt mein Atem aus und ich höre mein Herz langsam und unregelmäßig in meiner Brust schlagen. Sterbe ich tatsächlich? Ist es schon so weit?
Warum hast du mich gebor ’n? Bevor ich da war, war ich schon verlorn. Land der Henker, Niemandsland … Das Paradies ist abgebrannt …
Ich lasse los. Ich habe keine Kraft, das zu verdrängen, was geschehen ist. Ich habe keine Freunde mehr. Ich habe auch Falk nicht mehr. Er will sich nicht an mich erinnern. Und mein Seelenbruder hat mich geschlagen. Sie empfinden nichts für mich, gar nichts. Sie glauben mir nicht ein Wort von dem, was ich sage und meine. Vielleicht hegen sie sogar einen abgrundtiefen Hass gegen mich, weil ich die Band aufgelöst habe, keiner von ihnen hat mir das je verziehen. Haben sie gemeinsam beschlossen, mich dafür büßen zu lassen? Geht es hier nur darum – mich fertigzumachen?
Instinktiv strecke ich meinen Arm aus, um das Mikrofon zu mir herunterzuziehen und es festzuhalten, wie früher, wenn die Musik mich fortzureißen drohte. »Ich will nur weg«, hauche ich gepresst hinein und höre, wie mein Atem gegen das geriffelte Aluminium brandet. »Ganz weit weg … Ich will raus!«
Ich ziehe es noch näher an mich heran, bis ich meine Wange darauf betten kann, heiße Haut auf kühlem Metall, und zerre mit der anderen Hand weitere Felle über meinen Bauch und meine Beine, bis sie mich vollständig bedecken, weil ich das Gefühl habe, dass die Kälte mich auflöst.
»Noch stehe ich im Ring. Noch habt ihr mich nicht kleingekriegt«, flüstere ich lallend und weiß, dass ich keine Chance gegen sie habe. Jeder von ihnen ist stärker als ich. Zusammen sind sie eine Armee. Es gibt keine schlimmeren Feinde als jene Menschen, die einst deine Freunde waren. Ich bin mutterseelenallein.
CRISES
Die Übelkeit reißt mich brutal aus meiner Bewusstlosigkeit. Panisch strampele ich die Felle von meinem Körper, um Luft holen zu können. Aus meiner Kehle kommt nur ein trockenes Keuchen, selbst würgen kann ich nicht, obwohl mein Magen sich zu einem harten, kleinen Ball verkrampft. Das Dröhnen in meinem Schädel hat sich in ein grelles Hämmern verwandelt. Ich fühle mich wie betäubt, doch der Singsang in meinen Ohren, der meinen Schlaf wie ein fernes, aufreibendes Rufen begleitete, bleibt. Schlagartig ist mein Rücken nass vor Schweiß.
Erneut zwingt mich die Übelkeit dazu, mich aufstöhnend nach vorne zu beugen, während die Gesänge in meinem Kopf lauter und fordernder werden und gegen das Rauschen in meinen Ohren anbrüllen. Ich erkenne sie sofort, ich habe dieses Stück Hunderte Male gehört und ebenso oft im Geiste mitgesungen, aber wieso begleitet es mich jetzt? Wieso ist es da? Es lief gestern nicht und auch vorgestern nicht, ich habe es tagelang nicht gehört. Wie kommt es in meinen Kopf? Und warum geht es mir so miserabel? Warum habe ich immer noch das Gefühl, ausgeknockt worden zu sein? Ich habe schon schlimmere Schläge als den von Jules eingesteckt. Und ich habe schon mehr getrunken als einen Tee mit Rum. Wieso kann ich nicht denken?
Irritiert schaue ich an mir herunter. Mein Hosenknopf steht offen und mein Shirt ist nach oben gerutscht. War ich das? Tat mein Bauch so weh, dass ich meine Hose geöffnet habe? Wieso liege ich überhaupt hier auf dem Dachboden und nicht in meinem Bett? Da war Jules’ Schlag, das weiß ich noch, und der Becher mit Rum und dann … dann … Was ist passiert? Waren sie noch einmal bei mir?
Als ich mich Stück für Stück aufrichte und auf wackeligen Knien die Treppe hinuntersteige, muss ich immer wieder innehalten und warten, bis die schwarzen Schlieren vor meinen Augen mir den Blick freigeben. Mit beiden Händen klammere ich mich am Geländer fest, um nicht zu stürzen, denn es gelingt mir nicht, die Stufen so zu treffen, wie ich es möchte. Ich habe die Macht über meinen Körper verloren.
Die Tür zu meinem Zimmer öffne ich mit dem Ellenbogen, weil meine Hände sich zuckend meinem Befehl verweigern. Ich schlüpfe hindurch und kicke sie hinter mir zu. Es ist unwirtlich kühl hier drinnen. Ohne Licht zu machen, haste ich zum Waschbecken und drehe den Hahn auf, um mir kaltes Wasser ins Gesicht zu schaufeln, doch es passiert nichts.
»Fuck!«, stoße ich hervor, ein kraftloser, dünner
Weitere Kostenlose Bücher