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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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mir nicht. Es ist wie im Traum, wenn ich zu singen versuche. Meine Stimme klingt heiser und gebrochen und viel zu leise.
    Mit großen Schritten und verbissener Miene schreitet Jules an mir vorbei und wirft die Tür so heftig ins Schloss, dass der gesamte Raum erzittert. Nur wenige Sekunden später ertönt der dritte Knall. Was tut er jetzt da unten in seinem Zimmer? Auf sein Kopfkissen eindreschen wie damals auf den Zigarettenautomaten? Er hatte eben den gleichen Blick wie in jenen zornigen Minuten, als er den Automaten von der Wand prügelte, aber niemals hätte ich gedacht, dass ich es schaffe, ihn zu solchen Handlungen zu treiben.
    Noch immer stehe ich mitten im Raum, wie eine Angeklagte, und kann das Zittern nicht unterbinden. Ich stopfe meine Hände in die Hosentaschen, damit Falk und Tobi es nicht sehen. Meine rechte Gesichtshälfte pulsiert, eine Folge der Wucht, mit der sie getroffen wurde, und noch immer muss ich blinzeln, um klar sehen zu können. Doch Schmerz spüre ich keinen.
    Falk steht seufzend auf und geht einen Schritt auf mich zu. Ohne es zu wollen, torkele ich rückwärts, mein Körper traut niemandem, er ist gerade erst verletzt worden.
    »Alles okay? Hat er dir wehgetan?«
    »Nein«, sage ich tonlos und spüre, wie sich Speichel in meinem Rachen sammelt, wie immer, wenn ich gleich weinen muss, aber ich darf nicht weinen. Ich habe Angst, nicht mehr aufhören zu können, wenn ich einmal damit anfange. Eben noch bebte ich vor Zorn, aber jetzt, in Falks unmittelbarer Gegenwart, fühle ich mich schwach und leer. »Falk, gib es endlich zu, verdammt noch mal! Steh wenigstens dazu, wenn du ein Mann bist. Es ist geschehen, du weißt das genau, wir hatten diese Nacht!«
    »Ach, Linna.« Falk schüttelt beinahe verzweifelt den Kopf. »Sorry, sweetheart … ich erinnere mich nicht.«
    Sweetheart. Ich sollte ihm verbieten, mich so zu nennen, erst recht nach dem, was er mir angetan hat. Aber es hört sich aus seinem Mund so rührend weich und bedauernd an, dass ich es nicht einmal schaffe, mich von ihm abzuwenden. Was hat das zu bedeuten – er mag mich, aber er erinnert sich nicht? Will mir nicht mehr nahe sein?
    Ein trockenes Schluchzen hinter unseren Rücken lenkt uns beide voneinander ab. Synchron drehen wir uns um. Mit geschlossenen Augen und verkrampften Händen lehnt Tobias an der Wand neben dem Gong und ist kurz davor, lauthals loszuheulen; er sieht maßlos enttäuscht aus, enttäuscht von uns, von mir, von der Hütte, von unserem Miteinander, das keines ist … Vielleicht hat Jules’ Ausraster ihm sogar Angst eingejagt.
    Falk pfeift leise durch die Zähne und wirft seiner Hündin einen auffordernden Blick zu. Luna versteht sofort, was er will, und tapst zu Tobi hinüber, doch kurz bevor sie ihn erreicht hat, wendet sie ab und läuft wieder zu uns zurück.
    »Katze«, erklärt Tobi gleichgültig. »Meine Hosen riechen nach Katze. Ich hab eine Katze.«
    »Na komm.« Falk winkt ihn zu sich. »Komm, wir beide gehen mal raus und schippen eine Runde Schnee und danach hat sich die Lage bestimmt beruhigt.«
    Mit einem Schniefen löst sich Tobi von der Wand und nimmt wie ein Kind Falks Hand, um sich von ihm die Treppe hinunterführen zu lassen. Luna balanciert mit wiegendem Hinterteil hinterher. Ich bleibe allein zurück.
    Sobald draußen das Geräusch der Schneeschippe ertönt und ich sicher bin, nicht mehr beobachtet werden zu können, lasse ich mich auf die Knie fallen, ziehe meinen vollen Becher zu mir herüber, den jemand an die Wand gestellt hat, und trinke ihn auf ex aus. Der Tee ist nur noch lauwarm und der Rum brennt wie Feuer in meiner Kehle, doch ich greife mir auch die anderen Becher und kippe die Reste darin herunter, als stünde ich kurz vor dem Verdursten.
    Der Alkohol wirkt sofort. Stärker als sonst, brutaler. Der dumpfe Schmerz in meinem Kopf verwandelt sich in ein dröhnendes, langsames Pochen und mir ist augenblicklich schwindelig. Benebelt stehe ich wieder auf und versuche, mein Gleichgewicht zu halten. Schlieren ziehen vor meinem Blickfeld vorüber, schwarz und zäh. Was ist los mit mir, vertrage ich nicht einmal mehr einen Tee mit Rum? Ja, ich wollte vergessen, wenigstens für ein paar Stunden, aber jetzt habe ich Angst, die Besinnung zu verlieren und rückwärts umzukippen. Stolpernd schlurfe ich zur Wand, um mich dagegenzulehnen. Diese Taubheit in meinem Kopf … unfähig, zu denken … etwas zu entscheiden, zu handeln … Ich wollte das doch nie wieder erleben …
    Die Musik läuft

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