Linna singt
immer noch, aber nun finde ich sie unerträglich und verpasse der Anlage einen unkontrollierten Tritt. Sofort setzt die CD aus und nach ein paar Sekunden wieder ein, mit einem anderen Track, als wolle selbst die Musik mich bestrafen. Denn es ist Sehnsucht von Purple Schulz, jener Song, den ich mit elf Jahren das erste Mal hörte und bei dem ich sofort begriff, was der Sänger meinte. Ich fühlte es. Ich fühle es wieder, jetzt und hier, und meine Benommenheit verstärkt meine Empfindungen nur. Ich will raus! Ich muss hier raus. Doch anstatt zur Tür zu gehen, sinke ich auf die Knie und sehe unbeteiligt dabei zu, wie ein blutiger Speichelfaden aus meinem offenen Mund läuft und auf den Teppich tropft.
Jules, ausgerechnet Jules habe ich es zu verdanken, dass wir Sehnsucht eines Abends auch spielten, reduziert auf Keys, Schlagzeug, Bass und Gesang, geradezu hypnotisch arrangiert, und wieder einmal dachte ich, ich sterbe, und fragte mich, wie ich das aushalten solle. Es ging nur, weil Falk am Bühnenrand stand und den Refrain mit den Lippen formte, während ich ihn so laut herausbrüllte, dass das Mikro übersteuerte und meine Stimme alles andere übertönte … Es war nur zu ertragen, weil Falk da war und Jules hinter mir saß und das Gleiche fühlte wie ich, weil Maggie und Simon mich von rechts und links einschlossen. Sonst hätte ich mich weinend auf den Boden geworfen, es tat so weh … Sie brachten mich um mit solchen Songs, merkten sie das nicht?
Obwohl es mir vorkommt, als würde ich die Musik töten, und ich meine Bewegungen kaum noch steuern kann, trete ich ein weiteres Mal gegen die Anlage. Endlich ist Ruhe, bis auf den Wind, der nicht mehr wütend an unserer Hütte rüttelt, sondern in einem gleichmäßigen, enervierenden Brausen Schnee durch die Luft wirbelt. Doch in meinem Kopf hallt die Stimme von Purple Schulz weiter. Sie wird mich die ganze Nacht begleiten.
Regen fällt, kalter Wind. Himmel grau, Frau schlägt Kind. Keine Nerven … und so allein … Das Paradies kann das nicht sein …
Meine Zähne klappern unregelmäßig aufeinander, als ich mich vor dem knisternden Ofenfeuer zu Boden fallen lasse, meine Boots von den Füßen streife und mich in eines der Tierfelle wickle, das meine Haut augenblicklich zu wärmen beginnt, ohne dass diese Wärme meine Seele erreichen kann. Ich fühle mich nicht betrunken. Ich fühle mich todkrank. Taub im Kopf. Eingesperrt. Den anderen ausgehefert. Und das bin ich auch … ich bin ihnen ausgeliefert … Sie können mit mir tun, was sie wollen. Niemand ist hier, der mir hilft.
Männer taumeln müd nach Haus. Die kalte Seele fliegt hinaus. Kind muss weinen, Kind muss schrei’n. Schrein macht müde … und Kind schläft ein.
Das Schlottern verwandelt sich in Schüttelfrost, mein ganzer Körper bebt, als ich mich mit letzter Kraft auf den Rücken drehe und krampfhaft versuche, die Augen offen zu halten, doch meine Lider sind zu schwer. Selbst das Atmen kostet mich Kraft.
Ich hab Heimweh. Fernweh? Sehnsucht. Ich weiß nicht, was es ist …
Wieder kracht es über mir im Gebälk. Ich stelle mir vor, dass das Dach die Last des Schnees nicht mehr tragen kann, während wir in unseren Betten liegen und schlafen, jeder für sich allein, und plötzlich senkt sich der Tod über uns herab. Es geschieht lautlos, weil wir zu tief in unseren Träumen gefangen sind und niemand von uns es kommen hören kann, und auch sonst kann es keiner hören, weil wir hier oben allein sind. So ist es doch, oder? Es gibt nur Geräusche, wo auch Menschen sind, die sie hören können. Für jene, die wach werden, bevor ihr Herz stehen bleibt, ist es zu spät, sie spüren nur noch, dass sie ersticken, Schnee in unseren Augen und Mündern, schwarzer Schnee, weil kein Stern am Himmel glitzert und der Mond sich verborgen hat, alles schwarz und kalt …
Warum ist der Himmel leer? Ist da oben keiner mehr? Ich hab Sehnsucht … Ich will nur weg … Ganz weit weg … Ich will raus!
Irgendwann wird uns jemand finden und unsere Leichen ausgraben, die völlig steif gefroren sind. Kein Verfall. Sie werden bemerken, wie hübsch ich doch war. Dann werden sie uns nebeneinander in den Schnee legen und glauben, dass wir wenigstens eine schöne Zeit zusammen hatten, bevor die Tragödie uns das Leben nahm, ja, damit wird man sich trösten, sechs Freunde zusammen in einer Hütte im Schnee – das ist doch etwas Schönes, erst recht, wenn man gemeinsam Musik macht, wie wir es getan haben, bevor wir starben … Ja,
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