Linna singt
Ich wende mich nach links, einer schmalen Spur zwischen zwei Schneewehen entgegen. Sofort geht es besser voran; ich kann ein paar Schritte laufen, sogar in schnellem Tempo …
Die Panik schreit in meinem Kopf, ich kann mein Blut hören und meinen Herzschlag, er tut weh, das ganze Dasein tut weh, jeder Atemzug in meinen gequälten Lungen und jeder Schritt, jede Bewegung meiner Arme, jedes Zusammenziehen meiner Eingeweide. Und dazu sind wir geschaffen worden? Das soll der Sinn meines Lebens sein? Schmerzen, Wut und Angst und eine Flucht nach der anderen?
Obwohl ich eben beinahe über den Schnee geflogen bin, bleibe ich abrupt stehen. Ich habe etwas gehört, was nicht zu dem Schreien und Rauschen in meinem Kopf gehört – eine menschliche Stimme. Jemand ruft nach mir. Ein Rufen, fern und warnend …
»Linna! Linna, nicht weiterlaufen! Stopp, Linna!«
Plötzlich weiß ich, was geschehen wird. Wie im Ring, wenn ich einen Sekundenbruchteil vor meiner Gegnerin sehe, was sie tun wird, und reagieren kann. Doch jetzt will ich nicht reagieren. Ein anderer Mensch ruft nach mir und ich glaube, dass es Falk ist, aber ich möchte es nicht überprüfen, ich möchte es glauben. Keine Zweifel. Es ist Falk. Ich bin ihm wichtig. Er ruft nach mir, weil ich in Gefahr bin – dabei ist ihm gar nicht klar, dass die wahre Gefahr in meinem Leben liegt, nicht in meinem Tod. Er denkt, es ist der Schnee, der sich hinter mir zu lösen beginnt, in einem sanften, dunklen Grollen, es klingt beinahe wie ein Sommergewitter spät in der Nacht, obwohl es aus dem Boden kommt und nicht aus der Luft, feierlich und mächtig. Unaufhaltsam. Der Schnee ist keine Gefahr, er ist eine Erlösung, schneller als erhofft und doch willkommen. So etwas kann man nicht planen. Langsam wende ich meinen Kopf und sehe über meine Schulter nach hinten.
In pudrigen, perfekt geformten Wolken tost er auf mich zu, ich habe ihn gelockt und jetzt wird er mich einholen, so rein und weiß und unschuldig, niemand hat ihn zuvor berührt. Die aufgehende Sonne zaubert einen Regenbogen in die umherwirbelnden Schneekristalle, es sieht wunderschön aus und ich sehe staunend dabei zu, wie die Lawine elegant und ohne jede Eile in die Höhe wächst und sich verbreitert und dabei immer neue Wölbungen und Schattierungen bildet. Ich wusste nicht, dass Weiß so viele verschiedene Farben hat. Eine ist schöner und klarer als die andere. Und sauber. So sauber …
»Linna! Linna, nicht!«
Doch es ist zu spät. Ich drehe mich wieder um und laufe noch ein paar Schritte vor der Lawine her, pures, kindliches Spiel mit dem Schnee hinter mir, denn ich weiß, dass er siegen wird, und ich will es so. Ich möchte, dass er über mir zusammenschlägt und mich mit sich nimmt, denn mehr als das, was war, wird das Leben nicht für mich bereithalten. Alles Schöne ist bereits geschehen, was in Zukunft kommt, wird mich nur werden lassen wie sie, und das will ich nicht.
Ich möchte Linna bleiben. Ja, ich will Linna bleiben.
Nun weiß ich, warum ich seit gestern Abend die Musik aus Arizona Dream im Kopf habe. Kein Ohrwurm, sondern eine Prophezeiung. Weil es jetzt geschieht. Ich sehe die Szene vor mir, in der Grace sich in den Kopf schießt, nachdem Axel ihr oben auf dem Dach des Hauses gesagt hat, dass er sie liebt. Der Augenblick ihres Todes ist genauso perfekt wie dieser hier, den ich gerade erlebe. Ein Wüstengewitter, eine Lawine, das macht keinen Unterschied; es ist die Natur, die uns sagt, wann wir zu gehen haben, und so wie der Blitz Grace das Signal zum Schuss gibt, gab der Schnee mir soeben das Signal, mich von ihm begraben zu lassen. »Grace! Go home!«, ruft ihre Mutter noch und Grace lächelt nur – und tut es. Drückt ab. Ja, sie geht nach Hause, denn sie geht zu sich selbst zurück.
Ich muss nicht abdrücken, ich brauche keine Waffe, ich muss nur meine Arme ausbreiten wie ein Engel und warten, bis der Schnee über mir zusammenschlägt und es dunkel wird, dunkel und weich und geborgen.
Jetzt! Jetzt … Es brüllt in meinen Ohren, vielleicht brülle auch ich, als ich nach vorne gerissen werde, denn der Schnee ist nicht weich und anschmiegsam wie erhofft, nein, er prügelt mich, als wäre er aus Stahl, und quetscht meine Lungen gnadenlos zusammen. Instinktiv beginne ich mit den Armen zu rudern, während ich mich um die eigene Achse drehe und bergab kugele, mein Körper sieht es nicht ein aufzugeben. Es ist wie immer, er will leben und aufrecht bleiben, und so boxen meine Fäuste ein Loch in
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