Linna singt
die kalte Klammer um meinen Kopf, winzig nur, aber gefüllt mit Sauerstoff, bis meine Arme von der Last um mich herum an meinen Körper gedrückt werden und nur noch in einem sinnlosen Reflex zucken. Es wird still. Ich falle und drehe mich nicht mehr. Stöhnend atme ich ein und versuche verkrampft, durch das Hebeln meiner Ellenbogen die tiefschwarze Höhle aus Eis, in der ich gefangen bin, zu sprengen. Ein wenig gibt sie nach, doch dann rieselt neuer Schnee nach und presst meine Innereien unter seiner brutalen Last zusammen. Nicht einmal vernünftig sterben kann ich. Ich muss jämmerlich krepieren und wahrscheinlich wird es ewig dauern, ich werde vorher nicht ohnmächtig werden, es wird keine Gnade geben, ich werde alles bei vollem Bewusstsein erleben …
»Autsch!«, rufe ich gequält und huste Schnee, als etwas Hartes, Kratziges über mein Gesicht fährt. Die ersten Halluzinationen? Spuckend versuche ich meinen Kopf zur Seite zu drehen, weil das Ding nun über mein Auge schrammt, das ist doch idiotisch, ich werde sowieso sterben und das sind die ersten geistigen Ausfälle, wieso drehe ich mich weg? Warum habe ich immer noch diese elend guten Reaktionen, selbst in dieser ausweglosen Situation? Sie nützen mir doch gar nichts mehr …
Wieder berührt etwas mein Gesicht, dieses Mal warm, feucht und schleimig, und meine Augen blinzeln im plötzlichen Licht. Ich sehe direkt in die Sonne.
»Good girl, Luna. Good girl …« Eine kräftige Hand greift nach meiner Schulter und versucht, an mir zu ziehen und zu zerren, doch der Schnee lastet zu schwer auf meinem Bauch. Erneut fährt die heiße, triefende Zunge über meine Wangen.
»Tu die Töle von mir weg, und zwar schnell.«
»Linna … alles in Ordnung? Jesus, Linna …« Mit beiden Händen schaufelt Falk den Schnee von meinem Körper, während ich starr nach oben in die Sonne schaue, obwohl ich weiß, dass man davon erblinden kann und es ziemlich dumm wäre, freiwillig zu erblinden, nachdem man gerade so dem Tod entronnen ist. Ach, was heißt, gerade so entronnen … Ich übertreibe. Ich bin nicht ansatzweise tot gewesen. Ich bin einfach nicht totzukriegen! Trotzdem kann ich mich nicht bewegen, liege wie in einem Sarg, die Beine steif und lang gestreckt, die Arme verdreht neben meinem Körper. Falk schimpft unflätig auf Englisch, während er weiter Schnee von mir herunterschaufelt und Luna japsend um mich herumspringt und mir immer wieder mit ihrer Zunge übers Gesicht fährt, und ich weiß nicht, was der größere Horror ist, ihr ständiges Gesabber oder von einer Lawine einen steilen Hang hinuntergewirbelt zu werden.
»Tut dir was weh? Linna?«
»Alles«, vermelde ich knapp.
Falk schiebt seinen Arm unter meinen Brustkorb und zieht mich nach oben. »Kannst du dich bewegen?«
»Wenn du nicht sofort den Hund von mir wegnimmst, hau ich dir in die Fresse.« Ich kann nur noch hauchen wie eine Sterbende, aber ich tue es mit aller Inbrunst, die ich in dieser misslichen Lage aufbringen kann. Mit Falks Hilfe gelingt es mir, mich aufzurichten und Lunas Maul zu entkommen, doch ich merke sofort, dass ich nicht aus eigener Kraft stehen bleiben oder gar laufen kann. Ich bin kurz davor zu erfrieren. Eigentlich reichen keine fünf Minuten im Schnee, um zu erfrieren, doch meine Zähne schlagen plötzlich so heftig aufeinander, dass ich nicht mehr sprechen kann. Sind es denn nur fünf Minuten gewesen? Oder war ich viel länger durch den Schnee gestapft, bevor die Lawine kam? Ich kann mich nur noch daran erinnern, wie ich die Arme ausgebreitet habe und die Musik mich vorantrieb, jene Gesänge, die auch den Tod von Grace begleiten und zu denen ich immer hatte sterben wollen … so kraftvoll und erhaben … Gesänge, bei denen ich mich sah, wie ich im gestreckten Galopp über eine weite Ebene raste, der Himmel, das weite Land, das Pferd und ich … Endlich zu Hause … Ich dachte, es könne nur im Tod geschehen.
»Linna.« Falk schlägt mir sanft mit seinen großen Händen auf beide Wangen. »Schau mich mal an. Hey! Wach bleiben. Kannst du die Arme um meinen Hals legen? Dann nehm ich dich huckepack.«
»Wohin?«, frage ich argwöhnisch.
»Na, hoch zur Hütte!«
»Nein. Nein, ich will runter ins Dorf, nach Hause, ich will nicht mehr in die Hütte zurück, auf gar keinen Fall …« Mein Protest fällt schwach aus. Ich spüre meinen Kiefer und meine Lippen nicht, ein Gefühl, als hätte ich eine schwere Zahnarztbehandlung hinter mich gebracht.
»Ich glaub, du spinnst. Echt, du
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