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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Fluch. Die Leitungen sind nach wie vor gefroren. Tastend fahren meine Hände die eisige Wand entlang, bis sie den Schalter der Gaslampe finden.
    Noch immer tanzen Schlieren durch mein Sichtfeld, doch ich erkenne auf den ersten Blick, dass jemand in meinem Zimmer war. Meine Sachen sind weg. Nicht nur mein Kamm, sondern auch mein Skizzenbuch, mein MP3-Player und das Bild über dem Bett. Was ist hier passiert? Meine Kleider verteilen sich über den gesamten Boden, Slips, Unterhemden, Shirts, als hätte jemand in ihnen gewütet, um nach etwas zu suchen. Mein Bett sieht benutzt aus, zerwühlt sogar. Doch ich war oben, die ganze Nacht. Und ich habe meine Decke gestern glatt gezogen, bevor ich zu den anderen gegangen bin, daran erinnere ich mich genau.
    Während die Gesänge in meinem Kopf lauter und drängender werden, stolpere ich in den Flur und in die Stube. Mit einem Mal fühle ich Berührungen auf meinem Körper, am Bauch und meinen Hüften und meinem Mund, Berührungen, die ich niemals wollte. Obwohl ich weiß, dass ich allein bin, glaube ich zu spüren, wie jemand mit seinen dicken, kräftigen Fingern gegen meinen Kiefer drückt, damit ich meinen Mund öffne und er hineinsehen kann. Ich rieche scharfes Desinfektionsmittel, ein ständiges Brennen in der Nase, höre Schreien und Brüllen, sehe in leere, tote Augen … die längst aufgehört haben, zu hoffen und zu glauben …
    Die Wände der Stube scheinen sich auf mich zuzubewegen und meine Brust einzudrücken. Ich kriege keine Luft mehr. Ich muss hier weg, sofort, wenigstens muss ich nach draußen, ich kann nicht länger in dieser Hütte bleiben, mein ganzer Organismus schreit danach, sie zu verlassen. Jetzt ist auch mein Bauch feucht vor Schweiß und eine schmerzende Hitzewelle jagt über meinen Rücken, als ich ins Freie stürze und durch den harten, trockenen Neuschnee hinüber zum Anbau renne und mich dann weiter zu den Tannen vorkämpfe. Wenn es hier einen Schlitten gibt, muss er dort stehen, vielleicht sogar ein Motorschlitten. Ich sinke teilweise bis zu den Hüften ein, doch im Schatten der Tannen wird der Schnee niedriger. Ja, die Tür des Schuppens müsste zu öffnen sein, sie hat zwei Riegel, an denen dicke Eiszapfen hängen. Mit der Handkante schlage ich sie weg und zerre an den Eisenriegeln, doch sie geben nicht nach. Festgefroren. Ich hauche dagegen, aber sie beschlagen nur, anstatt sich zu lockern. In meiner Not hämmere ich mit den Fäusten gegen die Tür, ein hohles Scheppern in der Stille um mich herum. Sie gibt nicht nach.
    »Scheiße«, flüstere ich und lehne mich mit der Stirn gegen das Holz, um zu Atem zu kommen, obwohl mir mein jagendes Herz kein langsames Luftholen erlaubt. Meine Ohren aber sind trotz des permanenten Rauschens und den nicht enden wollenden Gesängen hinter meinem Trommelfell wachsam wie immer. Hab ich da nicht etwas gehört? Eine Art Klagelaut, aus dem Inneren des Schuppens? Schwach und unterdrückt? Ich presse mein Ohr gegen die Holzwand.
    »Hallo?«, rufe ich. »Ist da wer?«
    Wieder ertönt der Klagelaut, dieses Mal etwas wacher und lauter, Irrtum ausgeschlossen, da drinnen ist jemand. Ist das etwa eine Falle? Soll ich in diesen Schuppen gelockt werden? Oder liegt da am Ende noch einer von den Kranken, der ausquartiert und vergessen wurde und nun dort vor sich hin vegetiert? Jetzt ist es wieder still geworden, keine Geräusche mehr bis auf das Rufen in meinem Kopf, und es treibt mich fort von hier, ganz egal, was oder wer da drinnen ist.
    Ich drehe mich um und versuche wegzurennen, doch schon beim ersten Schritt stürze ich vornüber in den Schnee und brauche mehrere Anläufe, um wieder auf die Beine zu kommen. Die beißende Kälte spüre ich nicht mehr, nur noch meine Füße, die brennen, als laufe ich über glühende Kohlen. Ich muss runter ins Dorf, in die Freiheit, nur fort von hier. Wo war der Weg? Wo war der verfluchte Weg, den wir genommen haben?
    Vor mir breitet sich eine weiße, steil abfallende Wüste aus, durchsetzt von Schneewehen, die sich wie Dünen aus ihr erheben; der Sturm hat den Berg in eine Mondlandschaft verwandelt. Aber wenn ich zwischen den grellweißen Hügeln hindurchlaufe, dort, wo der Schnee am niedrigsten ist, werde ich es nach unten schaffen, der Untergrund ist weich und pulvrig. Die ersten Schritte vom Schuppen an unserer Hütte vorbei renne ich noch, dann sinke ich erneut zu tief ein, ich muss gehen, ach, selbst wenn ich krieche, es gibt keine andere Möglichkeit. Hier oben bin ich verloren.

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