Linna singt
selbst etwas, sobald die anderen schlafen. Ich muss sowieso Wache halten. Heute Nacht darf ich mich nicht hinlegen, ich habe keinen Schlüssel für meine Tür. Außerdem sollte ich in aller Gründlichkeit die Hütte durchsuchen. Ich muss wissen, ob es hier irgendeine Möglichkeit gibt, Hilfe zu rufen. Die kranken Manager wurden von der Bergwacht abgeholt, also muss es einen Funk zur nächsten Station geben. Wir können uns nicht auf unsere Handys und auf Jules’ Laptop verlassen, bestimmt hat er heute wieder seine geschäftlichen Mails abgerufen und beantwortet und der Akku wird sich leeren, genauso wie die unserer Handys, und es gibt in der ganzen verdammten Hütte nur eine einzige Steckdose – am Stromgenerator, den bisher niemand zum Laufen gebracht hat. Ich traue Jules zwar zu, dass er einen Ersatzakku mit sich herumträgt, doch auch der wird irgendwann zur Neige gehen. Wenn ich herausfinde, wie wir Hilfe rufen könnten, falls sie vonnöten ist, fühle ich mich vielleicht ein wenig besser.
»Was ist denn noch?«, frage ich, als Falk in der Tür stehen bleibt, und schiebe Luna ein weiteres Mal mit meinen Knien zur Seite.
»Ich …« Falk zögert und ein Hitzeschwall schießt durch meine Venen. Passiert es jetzt? Gibt er zu, dass er sich erinnert? »Es gibt ein paar Sachen, die ich nicht verstehe.«
Oh, prima, da sind wir ja schon zu zweit. Ich muss mir gut zureden, um ihm das nicht zu sagen und ihn wegen all dem zu löchern, was ich nicht verstehe.
»Falk, wenn du mich etwas fragen willst, dann bitte in deinem Zimmer, ich hab keinen Bock, dass Luna mir hier alles vollsabbert.« Es ist eine Ausrede. Ich hab Luna sogar gerne hier. Aber ich möchte gehen können, falls mir seine Fragen zu investigativ werden.
Mit einem Schulterzucken wendet sich Falk um und verschwindet nach nebenan in sein Zimmer. Ich nehme mir einen Moment, um meine Haare mit beiden Händen zurückzustreichen, meinen Zopf frisch zu binden und einen Schluck Wasser zu trinken, dann folge ich ihm. Er sitzt auf seinem Bett, die Gitarre im Arm, und hört sofort auf zu klimpern, als ich eintrete. Natürlich liegt Luna neben ihm, ihr Kopf auf seinen Oberschenkel gebettet. Für mich ist nur noch am Fußende Platz, doch ich ziehe es vor, stehen zu bleiben, mich an den Bauernschrank gegenüber dem Bett zu lehnen und meine Hände in meinem Rücken zu kreuzen.
»Frag«, fordere ich ihn auf.
»Gut … Gut. Was ich nich’ kapier – du boxt, oder?«
»Ja.«
»Okay … Du bestreitest also auch Kämpfe? So richtig, mit Publikum und Wertung und …?«
»Nein, wir Frauen prügeln nur wahllos aufeinander ein, bis einer von uns ein Fingernagel abbricht.« Warum, bitte schön, sollten Frauen anders boxen als Männer? Ganz zu schweigen von diesen hirnrissigen Diskussionen darüber, ob Frauenboxen unästhetisch ist oder nicht! Es war noch nie ästhetisch, einem anderen ins Gesicht zu schlagen; ob Mann oder Frau, macht da keinen großen Unterschied. Es ist nicht weniger und nicht mehr ästhetisch als Männerboxen und ich bin es leid, Argumente dafür zu suchen, dass wir etwas machen dürfen, wonach bei den Männern kein Hahn kräht. Ich muss auch nicht Fotostrecken in aufreizender Nachtwäsche (oder gar ohne jegliche Wäsche) von mir schießen lassen, um zu beweisen, dass ich hübsch bin, obwohl ich boxe. Interessiert bei den Männern doch auch kein Schwein, im Gegenteil, je fieser ihre Visage und je markiger ihre Sprüche, desto mehr Leute schalten ein, wenn sie in den Ring treten.
»Deshalb frage ich nicht«, nimmt mir Falk den Wind aus den Segeln. Ich atme langsam aus.
»Sondern?«, hake ich nach.
»Du bist im Ring, eingeschlossen, von allen Seiten – und es macht dir nichts aus? Gar nichts? Aber du haust von einer Hütte ab, weil dein Kamm weg ist?«
»Deswegen doch nicht.« Darum geht es also. Er ist noch mit meinem Ausraster beschäftigt. Ist ja auch ein gefundenes Fressen. »Ich weiß nicht, warum das so ist. Aber wenn ich im Ring stehe, dann denke ich nicht mehr daran, und wenn doch …« Ich stocke. Es ist nicht so, dass mir das nie bewusst geworden ist. Dass diese Situation eigentlich das Gegenteil von dem ist, was ich möchte. Ich muss mich Regeln unterwerfen und bin mit einem anderen Menschen zusammen eingesperrt, der mir an den Kragen will und mir ständig so nahe kommt, wie ich es in der Realität niemals akzeptieren würde. Aber sobald meine Hände in den Handschuhen stecken, fest verschnürt, und ich zuschlagen kann, ist es wie eine
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