Linna singt
Notwendigkeit, mich diesen fünfundzwanzig Quadratmetern zu überlassen, bevor ich aus meiner Ecke nach vorne trete und mich nur noch auf meine Gegnerin und ihre Fäuste konzentriere. Danach fühle ich mich wie gereinigt, ja sogar frei.
»Ich kann reagieren«, unternehme ich einen wagemutigen Versuch, dieses Phänomen zu erklären. »Ich bin nicht wehrlos, ich kann es bündeln, es macht mich sogar schneller, ich schicke es in meine Beine und Arme und dort … dort wird es zu Dynamit.«
Plötzlich sehne ich mich nach dem Ring und dem Training, so sehr, dass es in meinem Herzen zieht und schmerzt. Ohne es zu wollen, balle ich meine Finger hinter meinem Rücken zu Fäusten und mein Puls beschleunigt sich. Alles, was im Ring geschieht, ist fair, ja, es ist eine faire Angelegenheit. Es gibt keine ohnmächtige Wut. Es gibt kein verzweifeltes Weinen und Schreien und Betteln. Es gibt keine Worte mehr, keine, mit denen ich mich zu verteidigen versuche, und keine, die mich anklagen können. Ich kann gar nicht reden mit dem Schutz im Mund. Ich muss auch keine neuen Argumente finden und formulieren. Ich muss mich nicht verstellen.
»Du bist eine Wildkatze, Linna«, hat mein Trainer nach dem letzten Kampf zu mir gesagt, nicht nur lobend, sondern in beinahe kleinlauter Ehrfurcht. Wäre ich ein Kerl, würde Benno sich vermutlich zehnmal überlegen, ob er gegen mich antritt.
»Und die Männer?«
»Welche Männer?«, frage ich verwirrt. Wie lange stand ich hier vor Falk und habe nachgedacht? Fünf Minuten? Zehn?
»Na ja …«, antwortet Falk gedehnt und streicht mit der rechten Hand über Lunas Kopf. »Weißt du, was man laut Maggie über dich in Speyer erzählt?«, setzt Falk hinterher, als ich nichts erwidere. »Dass du die Männer auf der Bettkante zurückweist.«
Ich lache trocken auf. Soso, erzählt man sich das. Aber sobald ich sage, es waren nur fünf, ist es eine Lüge.
»Wenn es wahr ist: Warum tust du das? Warum reißt du Männer auf und dann …« Falk verzichtet darauf, den Satz zu beenden. Er weiß also nicht, was an dem Gerede über mich dran ist. Ob ich sie zurückweise oder benutze.
»Würde das jemand einen Mann fragen? Warum er Frauen abschleppt? Warum schleppst du Frauen ab, Falk?«
»Ich hab eine Schwäche für Frauen«, entgegnet er schlagfertig und grinst mich charmant an. Also schleppt er Frauen ab. Eine Information, auf die ich gut und gerne hätte verzichten können.
»Mensch, Falk, ich weiß es doch auch nicht! Ich habe nicht vor, sie abzuweisen, es passiert dann halt, wenn … keine Ahnung … ich …« Ich habe sonst nichts. Ich gehe alle paar Wochen in die Stadt, trinke mir einen Schwips an, ziehe mein übliches Programm ab – wie gesagt, viel muss ich gar nicht tun –, und dann läuft es so, wie es immer läuft. Ich will nicht darüber nachdenken. Und ja, ich weise sie auf der Bettkante zurück, meistens schon vorher, weil ich mich plötzlich für sie schäme und erst recht für mich. Mit etwas Glück gab es trotzdem ein paar innige Momente, in denen ich mir einbilden konnte, dass ich gemeint war. Aber die Männer sind selbst schuld, wenn sie das mitmachen, ich verspreche ihnen nichts und stelle ihnen nichts in Aussicht, keine gemeinsame Nacht und erst recht keine Beziehung, und die wenigsten haben sich danach wieder gemeldet. Also habe auch ich ihnen nichts bedeutet. »Das letzte Mal liegt sowieso schon Monate zurück«, versuche ich zu erklären, was ich nicht erklären kann. »Ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber an unsere Nacht erinnere ich mich gut. Sehr gut sogar.«
Falk beißt sich auf die Unterlippe. Ja, diese Wendung des Gesprächs wollte er nicht, jetzt sind wir wieder beim alten Thema, ich erinnere mich an etwas, woran er sich nicht erinnert.
»Ist schon gut«, sage ich gleichgültig, um der Situation ihre Peinlichkeit zu nehmen. »Es ist egal.« Ist es nicht, aber was soll ich tun? Ich kann nicht in seinen Kopf greifen. Die Erinnerung an mich ist fort. Ich war nur ein flüchtiges Betterlebnis ohne Tiefgang. Falk hat eben eine Schwäche für Frauen. So wie andere eine Schwäche für Schokolade haben; die merken sich auch nicht jede Tafel, die sie essen. Damit setzen sie sich nur auseinander, wenn sie Hunger darauf haben, und sobald der Hunger gestillt ist, verliert das Objekt der Begierde seine Bedeutung.
Falk fährt sich mit dem Daumen über das Kinn und überlegt. Ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Ob er beauftragt wurde, diese Fragen zu stellen, ob sie ihn
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