Linna singt
dass ich eine Entscheidung treffen muss. Soll ich es wagen und Jules aufsuchen? Ich möchte nicht länger passiv bleiben und abwarten, was geschieht. Wenigstens muss ich versuchen, etwas zu erfahren. Ich kann es ja auf die unschuldige Tour tun. Jules offen zu fragen, was sie über mich geredet haben oder gar denken, wäre zu kühn. Ich darf nicht vergessen, dass er Maggies Mann ist. Sie hat jetzt zwei Ritter an ihrer Seite, Simon und Jules. Und ich gar keinen mehr. Ja, so ist es, stelle ich verblüfft fest. Chapeau, Maggie, du hast mir meine Männer weggenommen.
Vorsichtshalber lösche ich das Licht in der Stube und lasse auch die Leuchte im Flur aus. Ich darf keinen Laut verursachen, wenn ich zu Jules gehe, auch nicht anklopfen, obwohl das höflicher wäre, aber das könnte Maggie auf den Plan rufen. Die Klinke sitzt so fest, dass ich sie mit der ganzen Hand umschließen muss, um sie ohne ein Geräusch herunterdrücken zu können. Erst als ich die Tür ein Stückchen aufgeschoben habe, wird mir klar, wie unausgegoren und dumm mein Plan ist. Ich weiß doch offiziell gar nicht, dass Maggie und Jules getrennt schlafen. Niemand weiß das außer ihnen. Ich kann gar nicht wissen, dass Jules hier drinnen liegt, also …
»Huch, was machst du denn hier?«, frage ich mit rasendem Herzen, weil mir nichts Besseres einfällt, als die Überraschte zu spielen. Jules liegt im Halbdämmer auf dem Bett, die Augen offen, und starrt an die Decke. »Musstest du ausziehen?«, rede ich im Flüsterton weiter und schiebe mich ins Zimmer, um die Tür hinter mir zu schließen. »Schnarchalarm?« Keine Antwort. Will er gar nicht wissen, warum ich dieses Zimmer betrete? »Bei mir ist es so verflucht kalt, ich hab gedacht, dass es auf dieser Seite des Flurs vielleicht wärmer ist. Ist es aber nicht.« Es ist sogar kälter als bei mir. Immer noch keine Antwort. Er lebt aber doch noch, oder?
Mir entfährt ein erschrockenes Keuchen, als die Musik einsetzt; wahrscheinlich hat er eben schon Musik gehört und ich hatte das sagenhafte Glück, in der Pause zwischen zwei Songs einzutreten. Ja, auf Jules’ Nachttisch steht eine kleine batteriebetriebene MP3-Anlage, an die er sein Smartphone angeschlossen hat. Den Song erkenne ich sofort. Es ist einer von denen, die ich singen soll. Video Games von Lana del Rey. Pure Melancholie und dazu eine gefasste, ruhige Dramatik, wie ich sie bisher in kaum einem anderen Song gehört habe. Er erinnert einen an alte Zeiten, ohne sie greifen oder benennen zu können. Als hätte man vor hundert Jahren schon einmal gelebt und schöne Dinge gesehen, die man noch vage spüren kann, aber zu denen es keine realen Erinnerungen mehr gibt.
Meine Augen folgen Jules’ Blick und schauen wie er an die Decke. Ich muss blinzeln, bis ich glaube, was ich sehe: Die Holzdecke der Stube ist übersät mit blauen Sternen und einer schiefen, blassen Mondsichel. Verdutzt suche ich nach der Quelle des Sternenhimmels. Jules hält sie in seinen Händen. Ein Plüschmarienkäfer mit eingebautem Licht, das sich durch die eingestanzten Sterne auf seinem Panzer an die Wände und die Zimmerdecke überträgt.
»Hast du Tobi unter der Bettdecke versteckt?«, versuche ich die befremdliche Situation mit einem Witz zu entschärfen. Blaue Sternchen am Himmel, das passt zu Tobi, nicht zu Jules.
»Was soll denn das jetzt heißen?«, schießt er aufgebracht zurück. Seine Stimme klingt belegt und müde.
»Pscht, du weckst die anderen«, wispere ich warnend. »Soll gar nichts heißen, aber Lichtinstallationen aus Plüschkäfern passen eher zu Tobi, unserem Gott der Teelichter, findest du nicht?«
Doch Jules ist erneut in seinem Schweigen versunken. Was soll ich tun? Wieder verschwinden? Ich habe ihm gesagt, dass ich nach einem wärmeren Zimmer suchte; nun weiß ich, dass dieses Zimmer a) besetzt und b) nicht wärmer ist, eigentlich sollte ich Leine ziehen. Doch ich bleibe an der Wand neben der Tür stehen und kann mich nicht rühren. Irgendetwas zwingt mich, hier bei Jules zu sein, obwohl er mir bisher nicht einen einzigen Blick geschenkt hat und ich die Musik kaum noch ertrage. Weil sie so schön und traurig zugleich ist und weil ich genau weiß, wie es sich anfühlen würde, diese Melodien zu singen. Auf meine eigene Weise … unverkennbar Linna …
»Das ist Minas Käfer, weißt du.«
Oh nein. Nicht dieses Thema, bitte nicht, Jules. Nicht Mina. Das Elend nimmt so schnell von mir Besitz, dass ich laut aufseufze – weder genervt noch abwehrend,
Weitere Kostenlose Bücher