Linna singt
sondern aus tiefstem Herzen. Mina …
»Wenn sie abends nicht einschlafen konnte, hab ich mich zu ihr in ihr winziges Bettchen gelegt und wir haben den Käfer angeschaltet und die Sterne gezählt.«
Ich muss schlucken, so sehr schmerzt meine Kehle. Ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Jedes Wort wäre Hohn. Mina war Jules’ kleine Schwester, ein ungeplantes Nesthäkchen und doch die lang ersehnte Tochter. Aber sie kam bereits krank auf die Welt, zu früh und krank, die Ärzte gaben ihr maximal zwei Jahre. Sie schaffte drei. Ich bin mir sicher, dass es ohne Jules weniger geworden wären. Ich kannte ihn damals noch nicht, aber die Geschichte war in und um Speyer und erst recht an unserer Schule Allgemeingut. Es war unmöglich, mit jemandem über Jules zu sprechen, ohne dass irgendwann dieses Familiendrama auf den Tisch gepackt wurde, und das Widerliche daran war, dass es seine Verehrerinnen nur darin bestärkte, ihn toll zu finden. Es verlieh ihm etwas Tragisches. Manchmal sind Menschen grauenvoll. Sie lieben jemanden wegen dem, was ihn zerstört.
Jules selbst sprach nie darüber, auch seine Eltern nicht, aber das Haus ist ein Mina-Museum; überall hängen Fotos von ihr. Ich frage mich, wie man sich das antun kann, wie man die Wände mit einem solch geliebten, verlorenen Wesen tapezieren kann. Nur das Schlafzimmer seiner Eltern beherbergte keine Mina-Fotos, als wollten sie wenigstens im Schlaf nicht daran erinnert werden, was geschehen war. Auch in Jules’ Zimmer: keine Mina, bis auf ein winziges Babyfoto auf seinem Schreibtisch. Ich war froh darum. Man muss auch vergessen können, wenigstens für ein, zwei Minuten.
Jetzt aber kann ich nicht verhindern, an einen der ersten warmen Abende vor sechs Jahren zu denken, ein Tag vor Ostern und der Sommer brach mit voller Macht herein. So ist das in der Rheinebene, da gibt es keine sanften Übergänge. Es kann im April so heiß werden wie anderswo im Juli und die Wärme bleibt auch abends und nachts, sodass man völlig beschwipst ist oder, im Fall von Maggie, Migräne bekommt. Deshalb fehlte Maggie an diesem Abend. Simon, Jules und ich fuhren mit ein paar Bekannten an den Bonnetweiher, die erste Baggerseeparty des Jahres, ein Pflichtprogramm. Wir hatten uns alle darauf gefreut.
Doch irgendwann an diesem Abend hörte Jules auf zu sprechen und zu lachen und zu trinken und setzte sich abseits ans Wasser, den Rücken zu uns gedreht und mit einer »Rühr mich nicht an« -Ausstrahlung, die selbst seine hartnäckigsten Verehrerinnen abhielt, sich zu ihm zu gesellen. Ich war gerade in einen kleinen Flirt vertieft, als er plötzlich neben uns stand und sagte: »Ich will heim.« Nur diese drei so kindlich anmutenden Worte. Wir hatten uns von einer Klassenkameradin im Auto mitnehmen lassen, sie wollte uns später wieder zurückfahren, aber sie war nicht bereit, diesen Abend jetzt schon zu unterbrechen, die Party habe doch gerade erst angefangen.
So waren sie, unsere »Freunde«, miese kleine Egoisten, wenn es um ihr Vergnügen ging. Ich verzichtete darauf, Jules zu fragen, ob er krank oder müde sei, und erst recht nicht bohrte ich nach, ob er Kummer habe. Ich stapfte durch den Sand und bettelte jeden, den ich fand, an, Jules heimzufahren, aber niemand sah sich imstande dazu. Sie hatten einfach keinen Bock. Oder sie konnten sich nicht ernsthaft vorstellen, dass wir keine andere Möglichkeit hatten, als mitgenommen zu werden. Selbst ein Fahrrad wollten sie mir nicht leihen. Stattdessen nichts als hohle Sprüche.
»Setz dich wieder, Linna, ist doch so eine schöne Nacht, Jules kriegt sich schon wieder ein …«
Nein, Jules war bereits so weit weggelaufen, dass ich seinen Schatten in der Dunkelheit kaum mehr ausmachen konnte. Eigentlich renne ich keinen Männern hinterher. Wenn jemand geht, will er gehen. Das kann man nicht ändern, indem man ihn verfolgt oder sich gar an ihn hängt. Aber das hier war Jules; kein Lover, sondern ein Freund, und ich wollte ihn nicht aufhalten, ich wollte ihn nur nicht allein lassen. Deshalb holte ich ihn ein und wir liefen den ganzen verdammten Weg vom Bonnetweiher nach Neulußheim zu Fuß, zwei Stunden lang waren wir unterwegs, ohne ein Wort zu wechseln, bis Jules vor einer Bushaltestelle anhielt und in den Sternenhimmel sah.
Ein lauer Wind streichelte unsere Gesichter und hinter uns im Wald ertönte das einsame, klagende Lied einer Nachtigall. Ein Hauch von Sommer. Doch in mir herrschte die gleiche unerbittliche Kälte wie in Jules. Ich
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