Linna singt
Es müsste ein Grönemeyer-Coververbot geben. An diesem Abend ignorierte ich es und sang Halt mich. Ich sang es für Jules. Ich weiß nicht, ob er das kapiert hat, er hockte mit hängenden Schultern am Schlagzeug, ein Handtuch um den Nacken wie so oft gegen Ende eines Auftritts, und schaute kein einziges Mal zu mir rüber – was ich nicht sah, sondern spürte, denn meine Augen waren vom ersten bis zum letzten Takt geschlossen.
Ich hab das Lied auf meine eigene Weise gesungen und interpretiert, geblieben sind eigentlich nur die Akkorde und der Text, aber als ich fertig war, wollte der Applaus nicht mehr enden und ich hatte unser Set zerrissen mit meiner Soloeinlage, die ganze Dramaturgie war futsch. Vielleicht hätten wir es bei diesem Song belassen und aufhören sollen, denn irgendwie kam nichts mehr an diesen Augenblick heran, aber ich hatte es nicht gesungen, um mich in den Mittelpunkt zu stellen. Ich hatte es für Jules getan. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, ob es bis zu ihm durchgedrungen ist.
Und jetzt … Jetzt liegt er vor mir auf dem Bett und sieht hinauf zu den blauen Sternen, die er zusammen mit Mina betrachtet hat, wenn sie nicht schlafen konnte, und es zerfrisst mich. Es ist mir sogar egal, dass er mich geschlagen und Schlampe genannt hat.
Lanas tiefe, leidende Stimme verstummt, um nach ein paar bleiernen Sekunden erneut einzusetzen. Wie oft mag Jules diesen Song schon gehört haben, seitdem er sich hingelegt hat? Ich trete zu ihm ans Bett und drehe die Anlage herunter. Was für andere bereits leise ist, ist für mich immer noch zu laut.
»Du würdest es so schön singen, Linna. Ich weiß das.«
Ich setze mich nicht zu ihm und dem Leuchtkäfer, sondern verharre still neben ihm und wage nicht, ihm in die Augen zu sehen. Doch trotz der Musik muss er hören, dass sich mein Atem nur noch durch meine Lungen quält, weil meine Kehle so gerne singen und mein Mund so gerne Worte formen möchte.
»Ich kann mich nicht bei dir entschuldigen, Linna. Denn dann müsste ich erklären, warum ich es getan habe. Und das geht nicht.«
Ich bleibe stehen und versuche zu begreifen, was er mir gesagt hat. Es gibt noch einen anderen Grund für seinen Ausbruch als den, dass er verheiratet ist und ich ihm zu nahe gekommen bin? Vielleicht der, dass es geplant war? Ist das wahr? Sie haben geplant, dass er mich schlägt? Warum habe ich dann immer noch das Bedürfnis, mich neben ihn zu legen und mit ihm die Sterne anzuschauen und dabei alles zu erzählen, was mir auf dem Herzen liegt?
Wie im Traum drehe ich mich um und gehe zur Tür. Was soll ich auch sagen? Es gibt nichts, was ich sagen kann und darf, ohne es furchtbarer zu machen, als es sowieso schon ist.
»Du hast gar keine Halsschmerzen, oder?«
Ich halte inne, getrieben von dem Wunsch, zu bleiben und ihm die Wahrheit zu sagen. Aber Maggie wird es erfahren und sie wird es mir übel nehmen. Jetzt weiß ich ja, dass sie niemand ist, dem ich vertrauen kann. Ich muss mir das immer wieder ins Gedächtnis rufen, weil mein Herz es immer wieder vergessen will: Jules hat Maggie geheiratet. Was ich ihm sage, erfährt auch sie. Also darf ich Jules nicht sagen, dass ich nicht mehr singen kann. Ich katapultiere mich selbst ins Aus, wenn ich das tue.
»Gute Nacht, Jules. Träum schön«, wispere ich so leise, dass er es nicht hören kann, schließe sacht die Tür hinter mir und will durch den stockdunklen Flur zu meinem Zimmer huschen, als Maggies Flüstern meine Bewegungen stocken lässt.
»Du warst bei ihm …«
Es ist eine Frage, eine Anklage, eine zutiefst ernüchterte Feststellung, alles in einem, doch es schwingt auch Hass mit und nur er ist es, der es mir unmöglich macht, sie stehen zu lassen und in mein Zimmer zu gehen. Langsam drehe ich mich zu ihr um. Mit der Bettdecke um ihre Schultern und bloßen Füßen lehnt sie an ihrem Türrahmen und sieht mich aus fiebrigen Augen an. Unwillkürlich streiche ich über mein Haar, denn ihr Blick bleibt daran hängen, kann sich nicht mehr davon losreißen. Ich habe meinen Zopf gelöst, während ich bei Jules war, weil er ziepte – denkt Maggie etwa, ich …
»Was hast du mit ihm gemacht? Warum warst du bei ihm?«
»Wir haben nichts gemacht, Maggie. Nur geredet. Geh wieder ins Bett.« Noch immer starrt sie auf meine Haare, als seien sie der Beweis für das, was in ihrem eifersüchtigen Kopf herumgeistert. Nur geredet … Es klingt platt, ich weiß es selbst.
»Lass ihn in Ruhe, Linna, ich warne dich. Lass meinen Mann in
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