Linna singt
den Bierkästen haben die Jungs schon ordentlich gewildert. Die Kartoffeln haben trotz der Kälte hässliche Triebe bekommen, sind jedoch noch essbar; außerdem finde ich eine Pappkiste mit Äpfeln und eine mit Orangen. An Skorbut werden wir nicht eingehen.
Den Metallschrank neben dem Vorratsregal kann ich erst beim zweiten Versuch öffnen, der Schlüssel klemmt. Aha. Die Notausrüstung. Taschenlampe, Leuchtraketen, eine Axt zum Holzhacken, eine Kettensäge, Hammer und Nägel, eine sperrige Holzkiste mit diversem Werkzeug und dahinter … eine kleine Funkstation. Nicht angeschlossen. Nicht angeschlossen? Ich versuche, das mobile Gerät in Gang zu bringen, doch der Akku scheint leer zu sein. Der kann auch nur für die Not taugen; eigentlich hängen Funkstationen am Strom, oder? Muss sie an den Stromgenerator angeschlossen werden? Oh Shit, ich hätte in Physik besser aufpassen sollen. Ich bin technisch sowieso talentfrei und das hier überfordert mich sofort, zumal ich das Gefühl habe, dass Teile fehlen, als ich die Station aus dem Regal ziehe. Haben die erkrankten Seminarteilnehmer per Handy Hilfe geholt? Manager tragen immer Handys mit geladenem Akku bei sich.
Ich muss mich gegen den Schrank stemmen, um die Tür wieder abschließen zu können, so stark hat sich das Schloss im Dauerfrost verzogen. Während ich durch das dichter werdende Schneetreiben zurück zur Hütte laufe, beschleicht mich der irre Verdacht, dass die Funkstation manipuliert wurde. Wieso steht sie versteckt hinter einer Kiste im Schrank? Sollte sie nicht für alle gut sichtbar und bedienbar innerhalb der Hütte angebracht werden? Ist sie irreparabel kaputt und lagert deshalb im Anbauschuppen? Oder wurde sie gar kaputt gemacht? Ich bin mir bewusst, dass ich kurz vor einer handfesten Paranoia stehe, aber ich werde das unangenehme Gefühl nicht los, dass ich es hier nicht mit Zufällen zu tun habe. Das würde doch in einen möglichen Racheplan der anderen passen: es mir unmöglich zu machen, Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Nein. Nein, das kann nicht sein, das wäre kriminell. Psychospielchen traue ich ihnen gerade noch zu, aber so etwas? Vom Bauch her nicht. Mein Kopf jedoch wittert plötzlich überall Verrat. Auch hier.
Zurück in der Stube, stelle ich als Erstes einen Topf mit Schnee auf und knöpfe mir mein Handy vor. Ich muss mich ans Fenster stellen, um schwachen Empfang zu bekommen, und ein warnendes Flirren fährt durch meinen Magen, als mir der grelle Signalton verkündet, dass neue Nachrichten eingetrudelt sind. »Drei Anrufe in Abwesenheit. Eine neue Mailboxnachricht.« Ich muss die Benachrichtigungen nicht anklicken, um zu wissen, wer versucht hat, mich zu erreichen. Es kann nur sie gewesen sein. Normalerweise würde ich mich spätestens morgen zurückmelden, nach einer ruhelosen Nacht voller Gewissensbisse und unterdrückter Wut, und würde es schon nach einer Minute bereuen. Denn es würde nichts ändern, wenn ich mich meldete. Es würde nur eine andere Variante des schlechten Gewissens nach sich ziehen.
Jetzt muss ich mit der ersten Variante zurechtkommen, denn es wäre leichtsinnig, mutwillig den Akku leer zu telefonieren. Ein Gespräch unter zehn Minuten mit ihr ist eine Illusion und es sind sowieso nur noch zwei Balken zu sehen. Das Handy ist alt, der Akku hat ein paar Jahre hinter sich und ich muss mir den letzten Saft aufsparen. Für alle Fälle. Also nehme ich die »Ich müsste mich bei ihr melden« -Gewissensbisse in Kauf. Und die Albträume von ihr, die unweigerlich folgen werden, wenn ich ihre Nachrichten weiterhin ignoriere. Aber es geht nicht anders.
Jules’ Laptop steht wieder auf dem Tisch. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ihn hochzufahren, um zu überprüfen, wie es bei ihm um den Akku bestellt ist, aber auch das kostet Energie. Also verzichte ich darauf. An den Handys der anderen möchte ich mich nicht vergreifen, obwohl ich drei von ihnen auf dem Querbalken an der Wand liegen sehe. Noch funktioniert außerdem mein eigenes. Ich schiebe es neben Jules’ Laptop, koche mir ein paar Nudeln, gebe Butter und Salz dazu und setze mich an den Tisch, um zu essen. Bis auf das Knacken im Dach und im Ofen ist es totenstill. Der Schnee fällt lautlos, der Sturm ist endgültig abgeflaut, und obwohl jemand Holz nachgelegt hat, bevor sie schlafen gegangen sind, beginne ich zu frösteln, als ich mich nicht mehr bewege. Es ist immer noch bitterkalt da draußen.
Während ich meinen Teller leere, wird mir zunehmend klarer,
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