Linna singt
wartete, blieb geduldig neben ihm stehen und schaute wie er in den Himmel, ohne etwas zu sehen, was uns Trost verschaffen könnte, denn die Sterne, die wir erblickten, waren schon längst nicht mehr da, erloschen in der Finsternis des Alls, wir nahmen nur ihren Abglanz wahr, bis plötzlich Jules’ Stimme durch die samtene Dunkelheit drang, brüchig und ertrunken in Trauer.
»Heute wäre sie zehn Jahre alt geworden.«
Ich habe in meinem ganzen Leben erst zwei Mal einen anderen Menschen in den Arm genommen, um ihn zu trösten. Einer davon ist Jules. Es gab keinen anderen Weg, als genau das zu tun. Ich hab mich auf die Bank des Wartehäuschens gestellt, damit ich größer war als er und er seinen Kopf auf meine Schulter legen konnte, und hab ihn festgehalten. Wie lange, weiß ich nicht. Ich habe nichts getan, als ihn zu halten, nichts gesagt, ihn nicht gestreichelt, ich war nur da. Vielleicht war ich nie mehr da gewesen als in diesem Moment. Inmitten der Kälte, die unsere Herzen umgab, entstand ein kleiner, wärmender Funke und ich wusste, dass er erlischt, sobald ich Jules loslasse. Also habe ich ihn nicht losgelassen, bis er von selbst die Kraft fand und mit einem zitternden Atemzug die Stirn von meiner Halsbeuge löste. Mein Shirtkragen war nass von seinen Tränen, doch ich hatte keinen Schluchzer gehört oder gespürt. Es kam mir beinahe vor wie ein Wunder.
Hand in Hand liefen wir zu seinem Haus, wo wir nicht aufsahen, als wir durch das Wohnzimmer zur Treppe gingen. Das kleine Mädchen mit den Kulleraugen und dem dünnen, seidig braunen Haar auf den vielen bunten Bildern blieb allein. Ohne zu duschen oder unsere Kleider auszuziehen, legten wir uns in Jules’ Bett. Ich schaute ihn nur an, meine Hand auf seiner Wange, bis er endlich einschlief und seine Atemzüge ruhig und leicht wurden. Erst dann wagte ich es, mich meiner eigenen Müdigkeit zu ergeben. Es war das einzige Mal, dass ich bei ihm in seinem Zimmer geschlafen habe.
Jules lieh mir am nächsten Morgen sein Fahrrad, damit ich es noch rechtzeitig zu unserem Chorgottesdienst in die Josephskirche schaffte. Ich musste dort auftauchen, wir sangen das Fauré-Requiem und meine Stimme war für den kleinen Chor unverzichtbar. Ich hatte keine Zeit mehr, mich umzuziehen und meine Haare vernünftig zu kämmen, aber das spielte keine Rolle, da wir stets oben auf der Empore sangen, wo mich sowieso niemand sah außer den anderen Chormitgliedern und dem Orchester.
Ich wusste genau, dass ich Ärger bekommen würde, denn sie sang auch mit, und wir waren nach dem Konzert noch nicht zu Hause angekommen, als sie anfing, mich zu beschimpfen, wie peinlich und beschämend diese Situation für sie doch gewesen sei: Ihre eigene Tochter erscheine mit einem Blick bei einem Chorauftritt, der jedem beweise, dass ich eine Nacht mit einem Mann verbracht habe, und das, ohne mich vorher bei ihr abzumelden und zu sagen, wo ich sei, aber das Unerträglichste sei gewesen, dass ich allen demonstrieren musste, Sex gehabt zu haben …
Sie hörte mir nicht zu, wie immer. Sie wollte nicht glauben, dass ich keinen Sex gehabt hatte, und selbst wenn, dann ging es sie verflucht noch mal nichts an, aber ich wollte ihr auch nicht sagen, was wirklich geschehen war. Sie hätte es ohnehin als Ausrede abgestempelt und in den Dreck gezogen. Das durfte sie nicht. Also ließ ich sie in dem Glauben, dass ich mich kurz vor dem Ostergottesdienst noch einmal kräftig hatte durchficken lassen und es mir ein ganz besonderes Vergnügen war, meine notgeile Lüsternheit den Menschen um mich herum zu präsentieren. Von nun an war klar, dass ich nie wieder bei einem Mann übernachten würde, solange ich bei ihr wohnte. Auch ein Grund, weshalb ich mit zwanzig noch Jungfrau war. Ich wollte mir derlei Vorwürfe nicht ein zweites Mal anhören müssen. Denn sie würden kommen, ob ich vorher um Erlaubnis bat oder nicht. Wann immer sie glaubte, ich hätte Sex gehabt, machte sie mich nieder.
Wenige Wochen später hatten wir mit Linna singt einen Auftritt auf einem Firmensommerfest in einem Pfälzer Kaff, nichts Besonderes, aber es stand ein Klavier auf der Bühne. Ein echter, korrekt gestimmter Bösendorfer-Flügel – so korrekt gestimmt, dass ich es wagen konnte, darauf zu spielen. Ich habe es getan, ohne Vorankündigung oder Absprache mit den anderen, und habe dabei eines meiner eisernen Gesetze gebrochen: niemals Grönemeyer covern. Es gibt Sänger, die man nicht covern darf. Grönemeyer steht ganz oben auf der Liste.
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