Linna singt
Ruhe.«
Sie versucht, drohend zu klingen, und obwohl sie es nicht schafft, wird mein Wunsch, ihrer Gegenwart zu entkommen, immer drängender. Sie flüstert, doch nur ein falsches Wort meinerseits genügt, um sie weinen oder schreien zu lassen. Und Maggie kann schreien. Ich habe es einmal erlebt. Ich möchte es mir nicht ein weiteres Mal anhören müssen, es war schrecklich genug …
»Gute Nacht, Maggie.«
Als ich in mein Zimmer schlüpfe, habe ich das Gefühl, dass die Luft sich zentnerschwer gegen mich drückt. Ich mache kein Licht an, sondern ziehe mich im Dunkeln aus und putze mir, ohne hinzusehen, mit dem letzten Rest Mineralwasser die Zähne. Sogar aufs Kämmen verzichte ich, obwohl es mich besänftigen würde. Maggie hat mich dabei erwischt, wie ich aus Jules’ Zimmer kam. Und jetzt? Wie soll ich ihr jetzt noch glaubhaft machen, ich wolle nichts von ihrem Mann? Hoffentlich schafft Jules es, ihr beizubringen, dass da nichts gelaufen ist. Und wie sie auf meine Haare gestarrt hat … Dachte sie etwa, wir hätten uns auf seiner Matratze herumgewälzt? Dabei habe ich selten eine Situation erlebt, in der weniger erotisches Knistern in der Luft lag als die wenigen Minuten bei Jules. Alles, was ich gespürt habe, war Trauer. Sie muss ihm anmerken, dass nichts passiert ist.
Als ich ins Bett krieche, fühle ich mich plötzlich wieder eingepfercht und ausgeliefert zugleich. Oh, wenn ich nur meine Tür abschließen könnte …
Doch Türen und Wände schützen mich nicht. Nur wenige Minuten nachdem ich mich steif wie eine Puppe ins Bett gelegt habe, dringen die ersten Takte durch die Wand, sanfte Gitarrenklänge und Falks Stimme, die ich seit fünf Jahren nicht mehr gehört habe. Als wolle er mich locken und herausfordern. Ich hatte recht. Sie ist voller geworden und selbstverständlicher. Intensiver. Warum tust du mir das an, Falk? Wir haben diesen Song doch immer zu zweit gesungen und während deines Solos hatte ich jedes Mal das Gefühl, mir müssten Schwingen wachsen, damit ich zusammen mit den Schallwellen durch die Luft gleiten kann …
»How long, how long will I slide, separate my side … I don’t believe it’s bad slitting my throat, it’s all ever …« Natürlich gelang es Falk nicht, das Solo wie John Frusciante zu spielen, dazu hat er zu wenig gelitten und dazu mangelt es ihm an Genialität, aber die Komposition ist so schlicht und schön, dass es ihr keinen Abbruch tat. Und sie wirkt auch jetzt, wo er sie nur auf der akustischen Gitarre begleitet. Mit einem gequälten Stöhnen wickle ich mir erneut das Kissen um die Ohren und weiß, dass ich schlafen muss, um dem zu entkommen, was um mich herum in all den verschlossenen Räumen passiert, während die Nacht uns in Eis und Schnee gefangen hält. Ich muss schlafen. Ich will schlafen. Hundert Jahre lang.
NO DREAM
Als ich von einer Sekunde auf die andere wach werde, weiß ich sofort, dass etwas anders ist. Angestrengt horche ich in die stockfinstere Nacht hinein. Die Musik ist verstummt. Es ist so still in der Hütte, dass ich mein eigenes Herz schlagen höre, nicht nur in meiner Brust, sondern in meinem ganzen Körper. Meine Haut pulsiert in seinem Takt, minimal, doch ich kann es spüren. Seine Schläge werden von Sekunde zu Sekunde eiliger und rücksichtsloser, obwohl ich reglos auf dem Laken liege und zu begreifen versuche, was mit mir geschehen ist.
Ich bin es, die anders ist. Nicht das Schneetreiben vor dem geschlossenen Fenster, nicht die Menschen um mich herum, nicht die Hütte, in der wir gefangen sind. Es hat mit mir zu tun. Werde ich krank? Ist es das? Hat mein Organismus mich deshalb aus dem Schlaf gerissen? Doch in mir herrscht keine kränkliche Schwere, auch fühle ich mich nicht fiebrig oder schwach. Ich fühle mich leicht. Mein Kopf ist leicht – und kühler als sonst. Als würde ich wenige Millimeter über meinem Laken schweben, schutzlos und angreifbar. Vollkommen nackt.
Langsam richte ich mich auf. Etwas Dünnes, Knisterndes streift meine Stirn. Insektenbeine. Blitzschnell haue ich mit der rechten Hand dagegen, um das Tier zu töten, und versuche es dann wegzuwischen. Es muss eine Spinne gewesen sein, die sich auf mich herabgelassen hat, obwohl ich nicht weiß, woher die in dieser Kälte kommen sollte, aber genauso fühlte es sich an. Doch es lässt sich nicht wegwischen. Es lässt sich auch nicht töten. Das Kitzeln über meinen Brauen bleibt. Da ist etwas auf meinem Kopf, direkt über meinem Haaransatz. Und gleichzeitig fehlt
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