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Linna singt

Linna singt

Titel: Linna singt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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etwas. Meine Schultern zucken, als ein Schwall kalte Zugluft meinen bloßen Nacken frösteln lässt. Noch immer fühlt sich mein Kopf merkwürdig leicht und leer an. Zu leicht …
    »Nicht möglich«, wispere ich beschwörend. Dieses Kitzeln kenne ich. Von früher. Es hat mich immer gestört, weil es mich daran erinnert hat, wie ich aussah. Burschikos. Kantig. Unweiblich.
    Ich versuche es mit Vernunft und Logik. Sie sind verrutscht im Schlaf, haben oben auf meinem Kopf einen Knoten gebildet und fallen nun in die Stirn, vielleicht habe ich schlecht geträumt und mich dabei ununterbrochen gewälzt und dann … nein. Sie sind zu seidig dafür und zu glatt. Sie fallen immer über den Rücken und bilden niemals Knoten.
    Meine Hand beginnt zu zittern, während ich sie mit einem stummen Schluchzen das tun lasse, was sie schon die ganze Zeit will: überprüfen, was ich fühle. Ein unartikulierter Laut löst sich aus meiner Kehle, als meine Finger über meine Stirn tasten. Ja, es gehört zu mir. Ich verstehe es nicht, aber das Kitzeln gehört zu mir, es stammt von meinen Haaren, von …
    »Nein!«, rufe ich und suche im Stockfinsteren nach dem Lichtschalter, womöglich ist es doch ein Irrtum oder ich erwache, sobald es hell ist und der Traum sich verflüchtigt, weil er keine Nahrung mehr findet.
    Doch selbst im schwachen Licht der Gaslampe ist mein Spiegelbild so kristallklar, dass auch diese Hoffnung entschwindet. Ein hässliches, entstelltes Spiegelbild, so hässlich … Meine Hände fliegen über meinen Schädel, um zu suchen, was nicht mehr da ist, können nicht damit aufhören, bis sie mich beinahe schlagen, als sei ich schuld an dem, was ich sehe.
    Meine Haare sind fort. Jemand hat sie abgeschnitten, stümperhaft, der Pony ist schief und im Nacken fühle ich nur unregelmäßige Stoppeln, er muss meinen Zopf genommen und ihn abgesäbelt haben, lieblos und in Eile. Panisch versuche ich die kläglichen Überbleibsel mit beiden Händen zurückzustreichen und zusammenzubinden, doch sie sind viel zu kurz dafür, das wird nicht gehen.
    Die Trauer überkommt mich so heftig, dass ich mich am Rand des Waschbeckens festhalten muss, um nicht zu Boden zu sinken. Mein abgehacktes Schluchzen klingt mädchenhaft hell in der Stille der Nacht, als ich erneut aufsehe und in mein verzerrtes Gesicht blicke. Das ist nicht mehr Linna, das ist eine Fratze, über die jeder spotten wird, sie haben mir meine Haare genommen, mein Ein und Alles, meine Weiblichkeit … oh Gott, meine Haare sind weg …
    Blind vor Tränen stolpere ich zu meinem Bett und wühle es mit beiden Händen durch, doch ich finde weder meine Haare noch eine Schere, es gibt keine Spuren für das, was hier geschehen ist, während ich schlief. Das ist kein Lausbubenstreich mehr und auch keine Strafe. Es ist ein Verbrechen!
    Mein Herz schmerzt so sehr, dass sich lang gezogene Schluchzer in meiner Brust bilden. Ich weine wie ein kleines Kind und muss mir auf meine Faust beißen, um dabei nicht zu schreien. Mit der Hand im Mund haste ich aus meinem Zimmer und renne, ohne nachzudenken, nach nebenan, wo Luna sofort hellwach ist und sich hechelnd gegen meine Beine drückt. Ich habe kein Licht angemacht, ich stelle mich nur wie gestern mit dem Rücken zum Schrank und bringe minutenlang kein Wort hervor. Gott, wie ich mein Weinen hasse, aber ich kann es nicht aufhalten, obwohl es mich beinahe zum Würgen bringt.
    »Falk …« Es gelingt mir nicht, Luna wegzuschieben, nichts funktioniert mehr, stattdessen trete ich an sein Bett und fange an, an seiner Decke zu ziehen und mit beiden Händen an seiner Schulter zu rütteln. »Falk, bitte wach auf, wach auf …«
    »Was ist denn? Was … Linna? Bist du das?«
    Sobald der Kegel seiner Taschenlampe die Dunkelheit durchbricht, mache ich einen großen Schritt zurück und schließe die Augen, als wäre ich dann unsichtbar. Doch Falks Schweigen zeigt mir allzu deutlich, dass ich das nicht bin. Ja, ich weiß, dazu kann man nichts mehr sagen. Verzweifelt reiße ich meine Augen wieder auf. Mein Gesicht ist nass vor Tränen.
    »Mir hat jemand die Haare abgeschnitten … meine Haare sind ab … weg … ich bin aufgewacht und … Warum?« Ich schreie nicht. Es ist ein heiseres, irres Rufen, ich will keinen der anderen wecken, aber ich kann auch nicht ruhig bleiben.
    »Shit«, flucht Falk halblaut und schlägt die Decke zurück, um aufzustehen und zu mir zu gehen, seine müden Augen zusammengekniffen, als glaube er nicht, was er da sieht. Noch immer

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