Liona Lix - Wer braucht schon Schnee im Sommer
Schmidt gerade seinen Satz und sieht nun noch strahlender aus.
Was? Was? WAS?
Liona konnte doch gerade nicht zuhören, weil sie an Mama und an die vorige Schulfeier und an ihre Bauchkneifer und all das dachte!
„Was hat er gesagt?“, wispert Liona zu Marilotta rüber.
Doch Marilotta kann gerade nichts verstehen, denn in diesem Moment johlt die Klasse laut los.
„HURRAAAA!“
Mist! Liona würde natürlich gerne wissen, was so großartig ist.
Herr Schmidt klatscht lachend in die Hände. „Ruhe!“ Dann holt er ein großes, dickes Buch aus seiner Umhängetasche. „Ihr könnt euch schon mal überlegen, welche Rolle ihr am liebsten spielen würdet.“
Rolle spielen?
„Führen wir jetzt auch ein Theaterstück auf?“, flüstert Liona.
„Du hörst echt nie zu, oder?“ Marilotta grinst. „Frau Andersen hat gestern ihr Baby bekommen. Viel früher als sie dachte. Und deshalb kann sie jetzt nicht mehr mit ihrer Klasse proben.“
„Und deshalb führen wir jetzt das Märchenstück von der Fünften mit Herrn Schmidt auf!“, raunt Constanze von deranderen Seite mit wichtigem Blick zu Liona rüber. „Und ich spiele die Hauptrolle!“
Märchen? Hauptrolle? Constanze?
Liona findet Märchen schrottdoof. Weil da lauter dumme Sachen drinstehen. Zum Beispiel, dass Hexen immer böse sind. Oder hässlich. Oder dass sie im Wald verloren gegangene Kinder in Backöfen schieben!
Wenn das nicht dämlich ist! Lionas Mama zum Beispiel ist nämlich kein bisschen hässlich. Und superlieb dazu! Und in den Backofen schiebt Mama Oktavia nur Nudelauflauf, Bratäpfel oder Pflaumenkuchen. (Oder vielleicht mal ein kleines Tongefäß, das Liona getöpfert hat.)
Liona macht ein ungemütliches Gesicht. Besonders gemütlich findet sie die Märchen-Theater-Idee nicht. Dann knittern gleich noch ein paar Falten über ihre Stirn. Denn dann sieht sie zu Constanze rüber.
Constanze ist die Bienenkönigin der Klasse. Das bedeutet, dass die meisten Mädchen um Constanze herumflattern, als wäre sie die wichtigste Mädchenbiene weit und breit.
Constanze ist natürlich nett und meistens freundlich und ganz schrecklich hübsch. Und ganz im Geheimen wäre Liona sogar sehr gern mit ihr befreundet. Aber als bewundernd summende und um Constanze herumflatternde Biene eignet sich Liona nicht. Das ist ihr viel zu affig.
„Wieso kriegt Constanze denn die Hauptrolle?“, wispert Liona in Marilottas Ohr.
Marilotta rollt mit den Augen. „Tut sie doch gar nicht. Herr Schmidt hat noch gar keine Rollen verteilt. Er will uns das Märchen erst vorlesen und dann …“
„Schscht!“, macht Herr Schmidt.
Eben hat er das dicke Buch auf seinen Tisch gelegt und schlägt nun die richtige Seite auf. „Ich nehme an, ihr alle kennt Schneewittchen? “ Er guckt fragend in die Runde. „Finger hoch, bitte, wer die Geschichte nicht kennt!“
Alle Finger bleiben unten.
„Wer soll denn das nicht kennen?“, kichert Michel hinter ihnen.
Liona lässt einen Seufzer hören. Ausgerechnet Schneewittchen!
„Ruhe!“, bittet Herr Schmidt noch mal. Er räuspert sich und fängt dann feierlich an zu lesen: „Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster …“
Genau da muss Niko nach draußen gucken, weil er leider grundsätzlich nicht länger als einen Satz zuhören kann und … sieht einen großen schwarzen Kater auf dem Fensterbrett sitzen. Die gelben Augen, mit denen er Nikodirekt ins Gesicht funkelt, leuchten ungewöhnlich hell. Niko wird ein wenig mulmig zumute.
Huch? Grinst der Kater etwa? Niko reibt sich die Augen. Doch als er ein zweites Mal hinguckt, ist das große schwarze Tier schon vom Fensterbrett runtergesprungen und läuft auf weichen Pfoten rüber zu den Spielflächen hinter der Schule.
„… an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte“, liest Herr Schmidt in sein Buch versunken weiter.
Und die Klasse (also, alle außer Niko natürlich) lauscht andächtig. Obwohl es heute so heiß ist, dass es eigentlich schon längst Hitzefrei hätte geben müssen.
„Und wie die Königin so nähte und nach dem Schnee aufblickte“, hört man Herrn Schmidts Stimme, „da stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rot im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Ach, hätt ich nur ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem
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