Lippels Traum (German Edition)
hatte, knipste er das Licht an, setzte sich gemütlich auf das Schlauchboot und nahm erst einmal einen tiefen Schluck aus einer Limonadenflasche.
Dann lehnte er sich zurück und fing an zu lesen.
Er begann noch einmal mit den ersten Seiten der Geschichte, las noch einmal von dem König, der sich so lange und so sehr einen Sohn gewünscht hatte.
Der König wandte sich an Allah, den Erhabenen, und flehte ihn an, bei der Macht der Propheten und heiligen Asketen, ihm einen Sohn zu schenken.
Und das schien auch wirklich zu nützen, denn die Königin gebar ihm einen Sohn, schön wie der runde Mond.
Hier hielt Lippel inne und lauschte. Es war ihm, als hätte er draußen etwas gehört. Aber bestimmt hatte er sich getäuscht. Frau Jakob konnte ja unten vom Flur aus sehen, dass in seinem Zimmer kein Licht brannte!
Er las weiter:
»Und jener Knabe wuchs heran, bis er ein Alter von fünf Jahren erreicht hatte. Nun befand sich bei dem König ein weiser Mann, der zu den größten Gelehrten gehörte, mit Namen Sindbad, dem übergab er den Knaben.
Und als dieser zehn Jahre alt geworden war, hatte ihn der Meister so trefflich unterrichtet, dass es niemanden gab, der dem Prinzen gleichgekommen wäre an Kenntnis, Bildung und Verständnis.
Wie sein Vater das vernahm, ließ er eine Schar arabischer Ritter zu ihm kommen, die ihn im Rittertum unterweisen sollten. Eines Tages aber schaute Sindbad der Weise in die Sterne und da erkannte er im Horoskop des Prinzen, dass großes Unglück über den Prinzen und die Seinen kommen werde, wenn er in den nächsten sieben Tagen nur ein einziges Wort rede. Er eilte zum Prinzen und beschwor ihn, sieben Tage zu schweigen, wenn ihm sein Leben lieb sei. Und der Prinz redete fortan kein Wort.
Dem König kam nach einigen Tagen zu Ohren, dass sein Sohn sich weigere, nur ein einziges Wort zu sprechen. Er schickte nach ihm und ließ ihn zu sich rufen und fragte ihn, was sein Schweigen bedeute.
Aber der Prinz antwortete nicht.
Da war der König ratlos und befahl, dass man seinen Sohn in die Privatgemächer bringen und wie einen Kranken behandeln solle …«
In diesem Augenblick wurde die Tür zu Lippels Verschlag heftig aufgerissen, Frau Jakob stand vor ihm.
»Hier sitzt du! Was machst du denn hier? Ich suche dich im ganzen Haus, ich dachte schon …« Jetzt erst entdeckte sie das Buch in Lippels Hand. »Das – das – also, das ist wirklich der Gipfel!«, sagte sie erschüttert. »Jetzt verstehe ich alles. Du hast das Buch weggenommen und dich hier versteckt. So eine Frechheit! Mir so einen Schreck einzujagen! Wenn du mein Kind wärst, also, ich würde dich …« Sie holte mit der Hand aus, als wenn sie ihn ohrfeigen wolle, und Lippel war in diesem Augenblick ganz besonders froh, dass er nicht ihr Kind war.
»Gib das Buch her!«, befahl Frau Jakob. »Sofort ins Bett, auf der Stelle!«
Lippel gab ihr das Buch, schob sich an ihr vorbei, ging in sein Zimmer zurück und legte sich ins Bett.
Frau Jakob kam nach. Aber nicht, um ihm eine gute Nacht zu wünschen!
»Das sag ich dir: Dieses Buch wirst du nicht wiedersehen, bis deine Eltern kommen«, versprach sie düster. »Die sollen damit machen, was sie wollen. Aber von mir bekommst du es nie mehr. Keine Sekunde!«
Damit schloss sie die Tür und ließ Lippel allein.
Lippel lag in seinem Bett und fühlte sich elend.
Frau Jakob war sehr, sehr ärgerlich gewesen. Sie ließ sich bestimmt nicht mehr umstimmen. Das Buch würde sie ihm nicht wiedergeben. Weder morgen noch übermorgen. Davon war er überzeugt.
Und ganz bestimmt versteckte sie es in Zukunft so gut, dass er es nicht wiederfinden und heimlich nehmen konnte.
Dabei hätte er zu gerne gewusst, wie die Geschichte vom stummen Prinzen weiterging!
Ob der Prinz es schaffte, eine Woche lang kein einziges Wort zu sagen?
Lippel nahm sich vor, die Geschichte einfach weiterzuträumen. Das ging vielleicht, wenn er bis zum Einschlafen nur an die Geschichte und an nichts anderes dachte. Aber das war gar nicht so einfach. Dauernd schoben sich andere Gedanken dazwischen: an Frau Jakob, an seine Eltern, an die beiden Neuen in der Klasse.
Und unversehens war er eingeschlafen.
Etwas über Träumer und das Träumen
Bevor erzählt wird, was Lippel in dieser Nacht träumte, muss hier erst etwas Allgemeines über das Träumen eingefügt werden.
Es gibt Menschen, die behaupten allen Ernstes, dass sie nie träumen würden. Lippels Vater war so einer, zum Beispiel.
Er sagte immer: »Heute Nacht habe ich
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