Lippels Traum (German Edition)
wieder tief und traumlos geschlafen.«
Dass er tief geschlafen hatte, mochte ja stimmen. Doch traumlos schlief er gewiss nicht. Jeder Mensch träumt nämlich, während er schläft.
Aber manche Menschen vergessen sofort wieder, was sie geträumt haben, und meinen am nächsten Morgen, sie hätten überhaupt nicht geträumt.
Dann gibt es Menschen, die können sich beim Aufwachen noch an jede Einzelheit ihres Traumes erinnern. Das war bei Lippel so. Er träumte so lebhaft und vor allen Dingen so eindringlich, dass er manchmal in der Erinnerung Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Mit manchen Erinnerungen hatte er keine Schwierigkeiten: Wenn er sich zum Beispiel ganz deutlich an einen Schwarm kleiner grüner Elefanten, an eine Henne mit Vorderradantrieb oder an zwei kopfstehende Politessen erinnerte, wusste er sofort, dass sie nur aus einem Traum stammen konnten. Aus einem recht unsinnigen noch dazu.
Schwieriger war es mit Erinnerungen, die mit ganz normalen Dingen zusammenhingen, mit Leuten, die er kannte, oder mit Sachen, die er erlebt hatte. Da wusste er manchmal nicht, ob es echte Erinnerungen waren oder Erinnerungen an einen Traum.
Einmal hatte er im Traum besonders lange an seinen Hausaufgaben gesessen und prompt kam er am nächsten Tag ohne Hausaufgaben in die Schule. Er dachte, er hätte sie wirklich gemacht.
Und es kam vor, dass er seine Mutter fragen musste: »Haben wir letzte Woche wirklich einen Brief von Opa und Oma aus Australien bekommen oder habe ich das nur geträumt?«
Manche Menschen, die sehr eindringlich träumen und ihre Träume ernst nehmen, können ihre Träume lenken. Lippel schaffte das zuweilen auch.
Während eines Angsttraums sagte er manchmal: »Also, das geht mir jetzt wirklich zu weit, das mache ich nicht länger mit!« Und schon wachte er auf.
Bei schönen Träumen gelang es ihm manchmal, sie ein bisschen in die Länge zu ziehen.
Und zuweilen (ganz selten allerdings) konnte er sich sogar vornehmen, wovon er träumen wollte, und das klappte dann wirklich.
So war es gar nicht weiter verwunderlich, dass Lippel die angefangene Geschichte einfach im Traum weitererlebte.
Mal schaute er sich dabei die Geschehnisse von außen an (wie in einem Film), mal steckte er mittendrin in der Geschichte. Wie das beim Träumen nun mal so ist!
Der erste Traum
er morgenländische Palast sah ganz so aus, wie es sich Lippel beim Lesen vorgestellt hatte: An den Wänden hingen kostbare Teppiche, die gewölbte Decke wurde durch weiße Säulen gestützt, die mit goldenen Mustern geschmückt waren. In der Mitte des Raumes stieg der helle Strahl eines Springbrunnens aus einem Marmorbecken auf, vor einem besonders prächtigen Teppich stand ein Thron und auf diesem saß der König.
Neben dem König stand eine Frau. Sie war in grüne Gewänder gehüllt, und wenn sie redete, sah man, dass ihre oberen Zähne etwas nach vorne standen. Das war nicht die Königin. Lippel wusste es sofort, als er sie sah. Es war die Tante des Prinzen, die Witwe des Bruders des Königs.
Die Tante hatte lange Jahre gehofft, dass ihr Sohn der Nachfolger des Königs werden und seine Schätze erben würde. Deshalb war sie so böse, als dem König schließlich doch ein Sohn geboren wurde, und hasste den Prinzen aus tiefstem Herzen. Jetzt, da der Prinz stumm war, sah sie die Gelegenheit gekommen, ihre Wut an ihm auszulassen.
Sie entwendete das Lieblingsbuch des Königs und versteckte es heimlich unter dem Kopfkissen des Prinzen.
Als nun der König am Nachmittag mit dem Regieren fertig war und sich wie jeden Tag auf dem Diwan ausstreckte, ein Stückchen Schokolade aus dem Goldpapier wickelte, es genüsslich in den Mund schob und nun nach seinem Buch greifen wollte, um zu lesen, da war das Buch verschwunden.
Und obwohl siebzehn Diener, die Palastwachen, vier Lieblingssklavinnen des Königs und schließlich sogar die Königin und ihre fünf Töchter den ganzen Raum absuchten, unter jedes Sitzpolster und hinter jeden Teppich schauten – das Buch war und blieb verschwunden.
Da meldete sich die Tante des Prinzen demütig zu Wort.
»Lieber Schwager und mächtiger König«, sagte sie. »Ich weiß, wo sich das Buch befindet. Doch wage ich nicht, es Euren ehrwürdigen Ohren zu enthüllen. Ich fürchte Euren Zorn, wenn ich den königlichen Entwender des Buches anzeige.«
»Liebe Schwägerin, du willst sagen: Wenn du den Entwender des königlichen Buches anzeigst!«, verbesserte sie der König, denn er legte Wert auf
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