Lippels Traum (German Edition)
Genauigkeit.
»Nein, königlicher Schwager«, sagte die Tante. »Verzeiht meinem vorlauten Mund, da er Eure ehrwürdigen Ohren durch eine nichtswürdige Richtigstellung beleidigen muss. Aber ich meinte ›königlicher Entwender‹. Oder ist Euer Sohn, Prinz Asslam, nicht königlichen Geblüts?!«
»Was faselst du? Prinz Asslam?«, schrie der König zornig. »Willst du dir meinen Zorn zuziehen? Halte deine Zunge im Zaum!«
»Es geht mir nur um die Wahrheit, königlicher Schwager«, sagte die Tante schnell. »Dafür nehme ich Euren Zorn demütig hin.«
»Willst du sagen, mein einziger, eigener Sohn hätte mein Lieblingsbuch gestohlen?!«, rief der König.
»So ist es«, sagte die Tante knapp und verbeugte sich tief.
»Das ist eine ungeheure Anschuldigung«, sagte der König entrüstet. (Und seine Frau und seine fünf Töchter nickten bestätigend.) »Wenn es sich herausstellt, dass du gelogen hast, wirst du zur Strafe aus meinem Land verbannt!« (Und seine Frau und seine fünf Töchter nickten noch heftiger, denn sie konnten die Tante nicht ausstehen.)
»Und was ist, wenn ich die Wahrheit gesagt habe?«, fragte die Tante schnell.
»Dann – dann – dann muss der Prinz verbannt werden!«, antwortete der König.
»Wenn das so ist, königlicher Schwager, würde ich an Eurer Stelle unter dem Kopfkissen des Prinzen nachschauen«, sagte die Tante selbstbewusst.
Und der König zog mit allem Gefolge ins Gemach des Prinzen, um nachzusehen. Wie groß waren das Entsetzen und der Zorn des Königs, als er sein Lieblingsbuch wirklich unter dem prinzlichen Kopfkissen entdecken musste!
»Mein Sohn ein Dieb!«, schrie er ein ums andere Mal. »Bestiehlt den eigenen Vater!«
Der Prinz stand dabei und wusste nicht, wie ihm geschah. Er durfte ja nicht sprechen, konnte sich nicht verteidigen und schaute verzweifelt zu Boden.
Der König hielt das Schweigen des Prinzen für ein Schuldgeständnis.
Und was er vor so vielen Zeugen versprochen hatte, musste er nun halten. Er befahl seiner Palastwache: »Packt den Prinzen Asslam und schafft ihn über die Landesgrenze! Er sei verbannt und soll nie mehr hierher zurückkommen!«
Die Lieblingsschwester des Prinzen, Hamide mit Namen, warf sich vor ihrem Vater auf die Knie und bat um Gnade für ihren Bruder. Darüber wurde der König noch zorniger und schrie:
»Wenn sie für einen Dieb bittet, so mag sie auch mit dem Dieb gehen. Hiermit verbanne ich auch Hamide!«
»Aber das ist ungerecht!«, rief Lippel. »Sie können doch nicht einfach …« Erschrocken hörte er auf zu reden, denn alle drehten sich nach ihm um.
»Wer ist dieser Fremdling? Wie kommt er hierher? Wie heißt er? Was will er?«, fragte der König verblüfft.
Das waren ein bisschen viel Fragen auf einmal. Deshalb antwortete Lippel erst einmal gar nicht.
Die Tante, die spürte, wie gefährlich ihr Lippel werden konnte, nützte das aus und rief sofort: »Das ist ein Komplize des Prinzen, sein Freund!«
»Ist er das?«, fragte der König. »Dann wird er hiermit auch verbannt. Packt alle drei und schafft sie aus dem Land!«
Und ehe Lippel sich wehren konnte, hatte die Palastwache ihn, den Prinzen und die Prinzessin ergriffen und aus dem Palast gezerrt.
Der Führer der Palastwache wählte zwei Männer aus, die mit ihm und den Verbannten reiten sollten. Man brachte sechs Reitpferde und zwei Packesel. Die Kinder mussten aufs Pferd steigen, die Hände wurden ihnen an den Sattelknauf gefesselt und schon ritt man aus dem Hof des Palastes, durch die Hauptstadt, hinaus in die Wüste.
Sie mochten vielleicht eine Stunde geritten sein, als sie hinter sich einen Reiter entdeckten. Der Anführer befahl der kleinen Karawane anzuhalten. Die Wächter griffen zu ihren Speeren und warteten gespannt auf den unbekannten Verfolger. Der näherte sich in rasendem Galopp.
Als er bei ihnen war, erkannten sie zu ihrem Erstaunen, dass es sich bei dem Reiter in Wirklichkeit um eine Reiterin handelte. Um eine Frau, deren Gesicht durch einen Schleier verhüllt war. »Wer bist du? Was willst du hier?«, herrschte sie der Anführer an. Die Frau nahm ihren Schleier beiseite und der Anführer erschrak: Es war die Schwägerin des Königs, die Witwe des Königsbruders.
»Verzeih mir, Gebieterin, ich habe dich nicht erkannt«, stotterte er und neigte den Kopf fast bis zum Pferderücken.
»Lass die Förmlichkeiten, ich habe mit dir zu reden!«, sagte die Frau streng. »Mit dir allein!«
Die beiden anderen Wächter entfernten sich sofort einen
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