Lippenstift statt Treppenlift
Benz: Er wollte wissen, ob der Wagen wie üblich fahrbereit vor der Tür stand.
Sobald es ging und Ömi keine Schmerzen mehr hatte, tauschte sie den Rollator wieder gegen den Audi. Sie sei noch zu schwach, um zu Fuß zu gehen, sagte sie.
»Hoffentlich ist sie nicht noch zu schwach zum Schalten«, wandte ich ein. »Ich habe außerdem Angst, sie könnte zu schwach sein zum Bremsen und zu schwach, um keinen zu überfahren.« Erst als alle Familienmitglieder wie aus einem Munde »Ach, Doris!« ausriefen, verstummte ich, allerdings nicht ohne das ungute Gefühl, mich mitschuldig zu machen an potenziellen von Ömi verschuldeten Unglücksfällen im Straßenverkehr.
Nach Ömis Genesung zog mein Mann schließlich wieder bei uns zu Hause ein und versuchte, sich von den Strapazen der Altenpflege – und insbesondere des frühen Aufstehens – zu erholen. Es gelang nicht wirklich: Er musste ja jeden Morgen und jeden Abend bei Ömi anrufen, um zu kontrollieren, ob es ihr auch gut ging.
Ömi war aber nicht immer zu erreichen. Mal vergaß sie, nach einem Gespräch aufzulegen, sodass die Leitung blockiert war. Oder sie stöpselte den Stromanschluss aus, um das Staubsaugerkabel in ebendiese Steckdose zu stecken (als gäbe es nicht mindestens zehn freie Steckdosen in dem zweihundert Quadratmeter großen Haus). Oder sie ließ das Telefon im Garten liegen. (Allein das passierte drei Mal wöchentlich.) In solchen Fällen versuchte mein Mann, die Nachbarin oder einen Verwandten aus der Nähe zu erreichen, damit die bei Ömi vorbeischauten. Wenn das nicht möglich war, fuhr er selbst los.
Eigentlich ist er nun immer irgendwie unterwegs – zur Arbeit, zur Ömi, von der Ömi kommend, mit der Ömi zur Krankengymnastik fahrend, wieder zur Arbeit. Er ist mehr im Auto als anderswo. Samstags fährt er sowieso nach wie vor immer zu Ömis Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Oft kommt es mir vor, als wohne er gar nicht mehr wirklich bei uns, sondern auf dem Mittleren Ring.
Nach Ömis Treppensturz widmete er sich der schier unlösbaren Aufgabe, alle Stolperfallen wegzuräumen. Unlösbar, weil die eben weggeräumten Dinge immer wieder an anderer Stelle auftauchten. Da waren zum Beispiel Kartons, die auf der Kellertreppe standen. Kleine Hocker auf dem Teppich neben dem Bett, im Dunkeln nur zu leicht übersehbar. Teppiche und Läufer, die wegrutschen konnten, Bodenvasen, zum Trocknen aufgespannte Regenschirme, Wäschekörbe – alles stand mitten im Weg: der reinste Hindernisparcours.
Einmal kamen wir zu einem Winterspaziergang vorbei, und Ömi zog fellgefütterte Winterstiefel an. Wenigstens trug sie keine Absatzschuhe mit spiegelglatten Sohlen, wie meine Mutter dies – auch bei Schnee und Eis – immer tut. Leider waren die Stiefel am Schaft ein bisschen eng, deswegen hatte sich Ömi den Stiefelauszieher rausgelegt, eine Vorrichtung, die aus einem leicht schräg stehenden, etwa dreißig Zentimeter langen Holzbrettchen mit einer ovalen Ausbuchtung besteht. Diesen Stiefelauszieher hatte sie atemberaubend knapp an der Kante der steinernen Kellertreppe platziert: Nur ein bisschen zu schwungvoll aus dem Stiefel geschlüpft, und schon wäre die Ömi kopfüber die steile Stiege hinuntergesegelt, und zwar mit vollem Karacho.
Mein Mann flippte fast aus und wollte den Stiefelauszieher im Kachelofen verheizen, aber Ömi lächelte nur wieder sehr spitzbübisch, als wäre ihr diesmal ein ganz besonders witziger Streich gelungen. Man konnte ihr förmlich ansehen, was in ihrem Kopf vorging: Verbrenn ihn nur, den Stiefelauszieher. Ich habe ja noch siebzehn weitere im Schrank!
Gegen das Gebot des Arztes – und meines Mannes – weigerte sie sich außerdem, zu duschen statt zu baden. Obwohl mein Mann sogar einen Duschhocker kaufte und in der Kabine unterbrachte, und obwohl er vorsorglich den Wasserhahn an der Wanne abschraubte. Ömi holte einfach einen Installateur, der einen neuen Hahn anbrachte, und führte die jahrzehntelange lieb gewordene Praxis des Heiß-Badens auf leeren Magen um 3 Uhr 30 fort.
»Vielleicht will sie sich umbringen«, sagte mein Mann verzweifelt. »Vielleicht hat sie einfach keine Lust mehr zu leben und versucht auf diese Weise, allem ein Ende zu machen.«
Kann sein – glaube ich aber nicht. Ich glaube, sie will einfach nur weiterhin jeden Morgen um 3 Uhr 30 heiß baden, und sie will sich dabei von niemandem reinreden lassen. Deswegen zieht sie das durch, auch wenn sich alle auf den Kopf stellen.
»Ich bring sie ins Altersheim!«,
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