Lippenstift statt Treppenlift
die Mahlzeit dort in der Küche aufzuwärmen und Ömi dann beim Essen Gesellschaft zu leisten. Ingeborg koche prima, schwärmte Ömi, und alles schien gut.
Erst als mein Mann Ingeborg eine Woche später wie vereinbart bezahlen wollte und diese ihm nur vier Tage berechnete, stellte sich heraus, dass Ömi sie nach dem vierten Tag abbestellt hatte – und zwar mit der Behauptung, ihr Sohn habe Urlaub genommen und könne sich jetzt selbst um seine Mutter kümmern.
»Das weiß ich schon lange«, verriet uns meine Mutter.
»Ach was! Und warum hast du uns nichts davon gesagt?«, fragte mein Mann erbost, aber damit kam er bei seiner Schwiegermutter nicht weiter. Sie setzte nur ein sphinxhaftes Lächeln auf und seufzte: »Fremde Menschen im Haus, wie schrecklich! Ich kann die Elsbeth ja so gut verstehen! Sie sagt, die Köchin geht ihr mit ihrem Geplapper so auf die Nerven, dass sie lieber gar nichts zu sich nimmt!«
Schließlich traf mein Mann eine Vereinbarung mit Doris, Ömis Schwägerin. Doris ist gute fünfzehn Jahre jünger als Ömi und eine ziemlich resolute Person. Außerdem war sie gut gebrieft und ließ sich deshalb nicht fortschicken, obwohl Ömi es nach Doris’ Angaben so in etwa jeden zweiten Tag versuchte. Mal behauptete sie, sie sei wieder ganz fit und habe sich selbst in die Küche gestellt und Käsespätzle gemacht. Dann wieder sagte sie, sie habe einen Darmvirus und könne nichts essen, deswegen erübrige sich Doris’ Besuch. Und schließlich gab sie vor, sie müsse ins Krankenhaus und sei deswegen gar nicht zu Hause.
Doris telefonierte aber jedes Mal mit meinem Mann und fuhr dann trotzdem zu Ömi, wo beide dann taten, als hätten Ömis Schwindeleien gar nicht stattgefunden, und sich grimmig anlächelten. Seither hasst Ömi Doris. Aber sie hat sie auch vorher nie besonders gemocht.
Das liegt daran, dass Doris nie die Hemden ihre Mannes – Ömis Bruder Bernhardt – bügelt. Es besteht zwar auch keine Notwendigkeit dazu, denn das Bügeln übernimmt bei ihnen eine Zugehfrau. Dennoch nimmt Ömi es Doris übel. Dummerweise kam irgendwann einmal zur Sprache, dass ich die Hemden meines Mannes – Ömis Sohn – ebenfalls niemals bügle und noch nicht mal in die Reinigung trage, denn er tut dies selbst. Ömi sagte nichts dazu, doch das Lächeln in ihrem Gesicht gefror, als sie das hörte. Seither nennt sie mich versehentlich manchmal Doris. Deshalb weiß ich, woran ich bei Ömi bin.
Als Ömis Mann noch lebte, bügelte sie seine Hemden übrigens auch nie, sondern das erledigte eine Haushälterin. Aber für Ömi gelten grundsätzlich nicht dieselben Regeln wie für andere.
Noch vor ein paar Jahren beispielsweise konnte Ömi sich sehr echauffieren, wenn Leute sich mit über achtzig noch ans Steuer setzten. »Ich als Volljuristin würde das rigoros verbieten lassen!«, so sagte sie immer. Als Ömi dann selbst achtzig war, traf es sich, dass ihr alter Audi einen Motorschaden hatte und auch sonst keinerlei Hoffung auf eine neue TÜV -Plakette bestand.
Ömi allerdings nahm das keineswegs als Zeichen, mit dem Fahren aufzuhören, sondern kaufte sich einfach einen neuen Audi – einen »neuen« gebrauchten, weil sie mit der modernen Technik wie Fensterheber und Zentralverriegelung nicht klarkam. Ein Mechaniker musste ihr außerdem eine spezielle Metall-Konstruktion unter den Sitz schweißen, weil sie sonst nicht mehr richtig aus dem Fenster sehen konnte – sie war schon etwas geschrumpft.
Eines Tages rief sie in heller Aufregung an: Auf der Zubringerstraße in den nächsten Vorort war ein Kreisverkehr entstanden, und nun traute sie sich nicht mehr, zum Supermarkt zu fahren. Wir mussten kommen und mit ihr einen Nachmittag lang Kreisverkehr fahren üben.
Leider kenne ich viele alte Menschen, die Auto fahren, obwohl sie es nicht sollten: Mein Onkel beispielsweise erkrankte vor ein paar Jahren an einer Infektion, in deren Folge sich seine Sehfähigkeit extrem verschlechterte: Er braucht eine fast zentimeterdicke Lupe, um die Zeitung zu lesen. Trotzdem fährt er ab und an mit dem Wagen. Auch mein inzwischen verstorbener Vater konnte das Autofahren nicht sein lassen. Nach einem kleinen Schlaganfall war er linksseitig blind, und zwar auf beiden Augen: Er konnte absolut nichts von dem wahrnehmen, was links von ihm passierte, ließ sich dadurch dennoch gute zehn Jahre lang nicht vom Fahren abhalten. Er fuhr sogar ab und an in die Berge zum Wandern.
Einer seiner letzten Gedanken vor seinem Tod galt übrigens seinem
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