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Lippenstift statt Treppenlift

Lippenstift statt Treppenlift

Titel: Lippenstift statt Treppenlift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johanna Urban
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tatsächlich!«, sagt dann mein Mann wütend. »Hast du nie darüber nachgedacht, dass die Haltbarkeitsdaten aus gutem Grund auf der Packung aufgedruckt sind?«
    »Ach, nein nein«, sagt Ömi ganz bescheiden, als gehöre es sich nicht, Kinkerlitzchen wie eine Vergiftung ernst zu nehmen, und man bekommt Lust, sie zu würgen.
    Einmal, vergangenen Sommer, hat sie es dann wirklich geschafft, sich selbst fast umzubringen. Es war sehr warm, aber Ömi hatte außer der obligatorischen Tasse Kaffee am Morgen schon seit ein paar Tagen nichts getrunken – weiß der Himmel, warum. Außerdem hatte sie, aus ebenso unerfindlichen Gründen, nichts gegessen. Dann war sie vor vier Uhr morgens aufgestanden.
    Ömi war immer schon eine Frühaufsteherin, im Alter aber hatte sich diese Tendenz noch verstärkt. Senile Bettflucht, möchte man sagen – viele alte Menschen können einfach nachts nicht schlafen und geistern permanent durchs Haus. Bei Ömi liegt die Sache aber ganz anders: Sie könnte wohl schlafen. Sie stellt sich aber den Wecker, und zwar auf 3 Uhr 30. Dann zwingt sie sich, aufzustehen. Denn morgens ist es so schön ruhig, sagt Ömi.
    Nun muss man dazusagen, dass es dort, wo Ömi wohnt, zu jeder Tageszeit ausgesprochen ruhig ist. Sie wohnt nämlich ganz am Ende einer Sackgasse, mit Blick auf eine einsame Wiese. Ich weiß nicht, welches der Lärm sein könnte, der sie tagsüber dort so stört und ihr die herrliche Ruhe des ganz frühen Morgens verleidet. Der rare Balzruf des Kranichs im Schilf? Das sporadische Glucksen der eigenen Kaffeemaschine? Jedenfalls braucht Ömi für ihren Seelenfrieden unbedingt die Ruhe des ganz frühen Morgens (der eigentlich eher eine fortgeschrittene Nacht ist). Gemütlich ausschlafen gehört sich offenbar gar nicht. Gegen drei Uhr nachmittags fallen ihr dann immer schon fast die Augen zu, und sie redet so wirr wie meine Mutter an schlechten Tagen. Dabei ist Ömi gar nicht dement, sondern nur die meiste Zeit übermüdet.
    An besagtem Tag jedenfalls stand sie noch ein wenig früher auf als sonst, denn sie hatte einen Arzttermin um zehn Uhr. Deswegen stellte sie den Wecker statt auf 3 Uhr 30 auf Punkt drei. Als Erstes stieg sie dann in die heiße Wanne.
    Was dann passierte, hatte wahrscheinlich überhaupt nichts mit ihrem fortgeschrittenen Alter zu tun: Selbst ein junger Mensch mit stabilem Kreislauf und allerbester Konstitution wäre unter diesen Voraussetzungen gestürzt. Und wer weiß, ob er’s überlebt hätte.
    Ömi schon, das spricht für ihre Zähigkeit. Sie fiel die komplette Steintreppe (insgesamt 17 Stufen) filmreif vom ersten Stock bis ganz nach unten ins Erdgeschoss. Dort lag sie dann ohnmächtig und alles war voller Blut. Aber als sie erwachte, wollte sie selbstredend natürlich keine Hilfe holen und auch sonst niemanden informieren, und es war nur ein reiner Zufall, dass sie gefunden und ins Krankenhaus gebracht wurde.
    Wie durch ein Wunder hatte sie sich nichts gebrochen, sondern sich nur starke Prellungen zugezogen. Sie konnte vorübergehend kaum noch laufen und ebenso schlecht stehen. Sie verbrachte eine Woche im Krankenhaus, dann wurde sie entlassen. Mein Mann kaufte einen Rollator fürs Haus und bestellte Essen auf Rädern, denn Ömi passte mit dem Rollator gar nicht mehr in ihre schmale Küche und konnte folglich nicht kochen.
    Nach zwei Tagen bestellte sie das Essen auf Rädern wieder ab, Begründung: »Das kann man nicht essen.« Sie hatte allerdings nicht ein einziges Mal gekostet.
    » WARUM DENN NICHT ?!«, fragte mein Mann, der kurz vor dem Explodieren stand. Er musste bei seiner kranken Mutter wohnen und war deshalb völlig übermüdet, denn Ömi wohnt etwa vierzig Kilometer von seiner Arbeitsstelle entfernt, so dass er bei ihr fast so früh aufstehen muss wie der balzende Kranich nebenan im Schilf.
    Ömi meinte, sie müsse das Essen nicht probieren, denn sie kenne es schon aus der Zeit, als ihre eigene Mutter noch am Leben war. »Das schmeckt einfach grauenhaft!«
    »Aber seither sind dreißig Jahre vergangen! Vielleicht hat sich das verbessert! Probier es doch wenigstens ein einziges Mal!«, flehte mein Mann, aber nichts zu machen: Ömi sperrte sich dagegen wie ein Kleinkind, das den Mund vor dem ungeliebten Löffel Spinat zukneift – und zwar nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern ganz real.
    Als Nächstes engagierte mein Mann Ingeborg, eine alte Bekannte aus der Nachbarschaft: Sie hatte die Aufgabe, jeden Mittag mit selbstgekochtem Essen bei Ömi vorbeizukommen,

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